Die zehn wichtigsten Fragen zur Abstimmung des Jahres in Grossbritannien
Brexit for Beginners

Verlässt das Königreich die EU? Was wären die Auswirkungen auf die Schweiz? SonntagsBlick beantwortet die wichtigsten Fragen rund um den Brexit.
Publiziert: 28.02.2016 um 15:51 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 03:25 Uhr
Boris Johnson will weg von Europa, David Cameron möchte bleiben, Merkel guckt dem Treiben ungläubig zu: Und die Schweizer sind wieder mal Zaungäste.
Foto: Illustration: Igor Kravarik
Marcel Odermatt und Simon Marti (Text), Igor Kravarik (Illustration)

Am 23. Juni kommt es im Vereinigten Königreich zu einer historischen Volksabstimmung: Treten die Briten aus der EU aus? Ein Brexit – das Kunstwort setzt sich aus «Britain» und «Exit» zusammen – hätte gravierende Konsequenzen für das Land und ganz Europa – auch die Schweiz wäre betroffen. SonntagsBlick beantwortet die zehn wichtigsten Fragen rund um den Showdown auf der Insel.

1. Was für ein Problem ­haben die Briten eigentlich mit Europa?

Die Skepsis habe geschichtliche Gründe, erklärt der Schweizer Historiker Oliver Zimmer (52), der an der Universität Oxford lehrt. «Die Distanz geht weit zurück, Napoleon versuchte Grossbritannien zu erobern. Zwei Weltkriege hat man unter grossen Opfern gewonnen, dann kam der Kalte Krieg.» Die Überzeugung, es sei besser, Distanz zu Europa zu haben, sei stark verwurzelt. Zimmer: «Etwas salopp formuliert: Europa fasziniert: guter Wein, besseres Wetter, schöne Städte. Aber es verstört auch: durch seinen Mangel an Pragmatismus und die hohe Staatsgläubigkeit.»

2. Gibt es Parallelen zur Schweiz?

Ja, eindeutig, so der Historiker: «Die Briten haben wie die Schweizer positive Erfahrungen mit ihrem Nationalstaat gemacht.» Entsprechend gross sind die Vorbehalte gegenüber dem politischen Zusammenwachsen Europas. Die Nation ist auf der Insel keine Fiktion, sondern die Grundlage der Demokratie. In Frankreich und Deutschland werde diese Haltung eher unterdrückt, sagt Zimmer. «Bei den Franzosen und Deutschen ist die EU ein Versöhnungsprojekt – in Berlin sogar eine Ersatzidentität.» Die Briten dächten globaler.

3. Was wäre eine EU ohne Grossbritannien?

Die EU würde womöglich an Gewicht in der Welt verlieren. Das Vereinigte Königreich ist die fünftgrösste Volkswirtschaft der Welt, hat einen ständigen Sitz im Uno-Sicherheitsrat und neben Russland und Frankreich die schlagkräftigste Armee Europas. Für Zimmer aber fast noch wichtiger ist das Gedankengut, das in Brüssel an Terrain verlieren würde: «Das liberalste Land der EU wäre plötzlich nicht mehr Mitglied.» Der liberale Flügel in der Union würde bei einem Brexit geschwächt. Und für Zimmer ebenfalls wichtig: Die angelsächsische Kultur, die global eine wichtige Rolle spielt, wäre nicht mehr in der EU vertreten.

4. Was haben die Briten zu verlieren?

Ökonomisch ist Grossbritannien mit der EU eng verbandelt. Mehr als die Hälfte der britischen Exporte geht in EU-Länder. Wie die Schweiz müsste sie nach ­einem Abgang einzelne Abkommen für den Markzutritt abschliessen. Die US-Ratingagentur Standard & Poor’s hat das Land vor dem Verlust seiner Spitzenbonität im Fall eines Austritts gewarnt.

5. Welche Auswirkungen hätte ein Brexit am 23. Juni für die Schweiz?

Schon heute will nur eine kleine Minderheit der EU beitreten. Dieses Lager würde bei einem Austritt wohl nicht grösser. Zimmer: «Die Skepsis der Schweizer an der Europäischen Union würde sicher noch zunehmen.» Denn viele teilten hierzulande die politische Grundhaltung der Inselbewohner. Würde die liberale Seite in Brüssel geschwächt, sei ein Beitritt «noch unwahrscheinlicher», so der Professor. Denn die Schweiz würde einen logischen «Verbündeten» verlieren.

6. Welche Konsequenzen hätte ein Austritt für die Verhandlungen der Schweiz mit der EU?

Die Position der Schweiz wäre nicht einfacher. «Die EU-Staaten würden noch näher zusammenrücken», ist Historiker Zimmer überzeugt. Politiker, die schon lange aus der Union einen Superstaat machen wollen, würden sich durch den Brexit bestärkt fühlen. Damit könne man der Gefahr begegnen, dass auch andere Länder auf die Idee kommen, sich zu verabschieden. Der Goodwill für Aussenseiter sänke. Zimmer: «In Brüssel gilt die Schweiz als starrköpfige Rosinenpickerin – wie jedes Land, welches das EU-Einheitsmenü ablehnt.» An diesem Image ändere auch ein Brexit nichts.

7. Mit Boris Johnson haben die Befürworter einen prominenten Mitstreiter bekommen. Kann der Bürgermeister von London die Abstimmung gewinnen?

In England fragen sich viele: Will der charismatische, konservative Intellektuelle Boris Johnson (51) wirklich sein Land aus der EU führen? Oder ist es Opportunismus, der ihn antreibt? Klar ist, dass er sich nur zu gerne ein Duell mit dem ewigen Kontrahenten und Premier David Cameron (49) liefert. Die beiden kennen sich seit ihrer Zeit im Eton-­Internat. Das Risiko, das Johnson eingeht, ist gross. Fängt er im Juni eine Schlappe ein, sinken seine Chancen, eines Tages Regierungschef zu werden. Für Zimmer handelt Johnson durchaus mit Kalkül. «Man kann ja auch von einem Brexit überzeugt sein, und trotzdem Premierminister werden wollen.»

8. Könnte sich Grossbritannien überhaupt politisch und wirtschaftlich von der EU emanzipieren?

Das einzige Land, das bisher aus der Vorgängerorganisation der EU, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, austrat, war 1985 das kleine Grönland. 1975 lehnten die Briten ­einen Austritt ab. Doch dieses Mal ist die Situation eine andere. In den Siebzigerjahren galt das Land als «Sick Man of Europe» – als kranker Mann Europas. 1975 entschieden wirtschaftliche Überlegungen die Abstimmung. Viele hatten Angst, dass es mit dem Staat bei einem Austritt noch schneller bergab geht. Heute steht das Königreich ökonomisch besser da. Trotzdem sind die Märkte kritisch. Das Pfund verlor nach der Ankündigung des Referendums gegenüber Dollar und Euro massiv an Wert.

9. Wie verläuft die Debatte im Königreich?

Führende Zeitungen wie die «Financial Times» oder der «Economist» sind gegen den Brexit. «Bad for Britain, Europe and the West» (Schlecht für Grossbritannien, Europa und den Westen), warnt das einflussreiche Blatt. «Die Debatte verläuft auf einem viel höheren Niveau als im Rest Europas», sagt Zimmer. Dort gelte als fortschrittlich, wer für die EU und als «Hinterwäldler», wer dagegen sei. «In England wird gestritten und werden Sachfragen auf den Tisch gelegt.» Man müsse auf der Insel kein «Ewiggestriger sein, um die EU sachlich zu kritisieren.»

10. Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Briten der EU tatsächlich den Rücken zudrehen?

65 Prozent der Briten sind europaskeptisch. Aber nur diejenigen, die glauben, dass ein Austritt wirtschaftliche Vorteile brächte, wollen die Union tatsächlich verlassen. Am Schluss könnte der typische britische Pragmatismus siegen. Nicht überzeugt, aber aus Vernunftgründen macht man weiter mit. Die Briten wollen keine Unsicherheit riskieren. Gleichzeitig gilt: Bis zur Abstimmung sind es noch vier Monate. Es kann noch viel passieren.

EU-Zückerli für die Briten

Brüssel gewährt Zugeständnisse, um die Insel zum Bleiben zu bewegen: So sollen künftig neu eingewanderte EU-Bürger in Grossbritannien während vier Jahren geringere Sozialleistungen erhalten. Dieser Kompromiss gälte während sieben Jahren. Kinder von Einwanderern, die noch im Herkunftsland ihrer Eltern leben, sollen nur noch mit dem dort üblichen Kindergeld unterstützt werden. Dem Nicht-Euro-Mitglied Grossbritannien wird zudem garantiert, dass es bei künftigen Rettungsaktionen im Euro-Raum nicht zur Kasse gebeten wird. Weiter können in Zukunft die Volksvertreter in den EU-Staaten künftig innerhalb zwölf Wochen ein Vorhaben der EU-Kommission versenken – wenn sich 55 Prozent der Parlamente dagegen aussprechen.

Brüssel gewährt Zugeständnisse, um die Insel zum Bleiben zu bewegen: So sollen künftig neu eingewanderte EU-Bürger in Grossbritannien während vier Jahren geringere Sozialleistungen erhalten. Dieser Kompromiss gälte während sieben Jahren. Kinder von Einwanderern, die noch im Herkunftsland ihrer Eltern leben, sollen nur noch mit dem dort üblichen Kindergeld unterstützt werden. Dem Nicht-Euro-Mitglied Grossbritannien wird zudem garantiert, dass es bei künftigen Rettungsaktionen im Euro-Raum nicht zur Kasse gebeten wird. Weiter können in Zukunft die Volksvertreter in den EU-Staaten künftig innerhalb zwölf Wochen ein Vorhaben der EU-Kommission versenken – wenn sich 55 Prozent der Parlamente dagegen aussprechen.

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