Die Präsidenten von ETH und Scienceindustries zum fehlenden EU-Rahmenvertrag
«Wir erleben die ersten Rückschläge»

Die beiden Präsidenten von ETH-Rat und Scienceindustries, Michael Hengartner und Matthias Leuenberger, reden mit dem SonntagsBlick über die Konsequenzen für den Schweizer Forschungsstandort nach dem Ausschluss aus Horizon.
Publiziert: 23.01.2022 um 13:14 Uhr
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Aktualisiert: 23.01.2022 um 13:16 Uhr
Hauptgebäude der ETH Zürich, der rennomiertesten Schweizer Hochschule.
Foto: Siggi Bucher
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Interview: Reza Rafi, Simon Marti

SonntagsBlick: Glaubt man diversen Meinungsführern, besteht kein Grund zur Sorge: Sie können ja mit Ihren Forschungsprojekten in den angelsächsischen Raum oder nach Asien ausweichen. Wozu brauchen Sie Kontinentaleuropa?
Michael Hengartner: Man muss zwischen Universitätsrankings und wissenschaftlicher Aktivität unterscheiden. Es gibt in Kontinentaleuropa enorm viel hervorragende Forschung, das wird hier unterschätzt. Nehmen Sie beispiels- weise den Europäischen Forschungsrat, der die innovativsten Projekte und kreativsten Forschenden fördert. Welches Land hat 2021 bei den «ERC Starting Grants» am besten abgeschnitten? Nicht Grossbritannien, sondern Deutschland.

Fallen Ihnen da Beispiele ein?
Hengartner:
Es ist phänomenal, wie viele Topleute die Max-Planck-Gesellschaft rekrutieren kann und welche Publikationen dort erscheinen. Dasselbe in Frankreich: Dort haben Sie einzigartige Forschungsinfrastrukturen wie die Teilchenbeschleunigeranlage in Grenoble, die in vielerlei Hinsicht denjenigen am Paul Scherrer Institut im Aargau ebenbürtig ist.

Lässt sich Europas Stellenwert für Sie beziffern?
Hengartner:
Mehr als die Hälfte unserer Forschungspartnerschaften wird gemeinsam mit Forschenden im europäischen Raum betrieben. Mit den USA sind es weniger als 20 Prozent, mit China weit weniger als zehn Prozent. Wenn die Vernetzung mit Europa erodiert, haben wir ein Problem.
Matthias Leuenberger: Das gleiche Problem hat auch die chemisch-pharmazeutische Industrie. Novartis etwa investiert in der Schweiz jährlich 3,3 Milliarden Franken in Forschung und Entwicklung. Da sind auch Forschungskollaborationen mit Partnern in der EU betroffen. Wir können es uns nicht leisten, von den europäischen Netzwerken isoliert zu sein.

Wie sieht es bei den Hochschulen aus?
Hengartner:
Die Erosion ist schleichend, aber wir erleben jetzt die ersten Rückschläge. Am sichtbarsten ist es bei unseren Nachwuchsforschenden. Die können sich zum Beispiel nicht mehr um ERC-Grants oder eine Marie Sklodowska Curie Fellowship bewerben. Beide gehören zu den international anerkanntesten Fördermassnahmen für Wissenschaftskarrieren.

Sie beziehen sich auf Forschende, die keine EU-Projekte mehr leiten dürfen. Können Sie da konkreter werden?
Hengartner: Wir haben Koryphäen, die keine Kooperationsgruppen mehr führen dürfen. Das sind Kolleginnen und Kollegen, die jahrelang Captain des Teams waren und jetzt gerade noch geduldet werden. Der als Nobelpreis-Anwärter gehandelte Chemiker Michael Graetzel von der EPFL wäre für die Leitung zweier Projektgruppen vorgesehen gewesen. EPFL-Physiker Tobias Kippenberg hat die Führung seines Projekts in der Quantenforschung abtreten müssen. An der ETH Zürich hat Erdbebenforscher Domenico Giardini die europäische Koordination verantwortet. Das ist jetzt vorbei, weil er in der Schweiz tätig ist.

Was bedeutet so etwas für einen Forscher?
Hengartner:
Es ist frustrierend. Du bist nicht schlechter als gestern, aber darfst aus rein politischen Gründen nicht mehr mitmachen. Stellen Sie sich vor, Roger Federer würde von Wimbledon ausgeschlossen, weil er aus der Schweiz kommt.
Leuenberger: Wenn Wissenschaftler ihre Leitungspositionen abgeben müssen, hat das auch gravierende Auswirkungen auf unsere Branche. Dazu kommt, dass wir unter Horizon Europe mit der «Innovative Health Initiative» der EU die weltweit grösste öffentlich-private Partnerschaft in den Biowissenschaften haben. EU-Kommission und Private schiessen je 1,2 Milliarden Euro ein. Diese Partnerschaft steht jetzt für Schweizer Firmen auf der Kippe.

Im vergangenen Mai versenkte der Bundesrat den Rahmenvertrag. Hat er das Land ausreichend auf die Folgen vorbereitet?
Hengartner: Bundesrat Guy Parmelin legt sich als Wirtschafts- und Forschungsminister für uns ins Zeug. Aber die Situation macht jetzt einen doppelten Effort nötig. Darum wollen wir unseren Beitrag leisten und darauf hinweisen.
Leuenberger: Wir haben ein Problem, und das Problem ist erkannt – so weit, so klar. Unklar ist leider immer noch, in welche Richtung es nun gehen soll. Jede Partei hat nach wir vor ihre eigenen Ideen. Jetzt müssen sich die politischen Parteien einig werden, was sie in Bezug auf Europa wollen.

Das probieren sie seit sieben Jahren.
Leuenberger: Unser Verhältnis zu Europa muss unbedingt pragmatischer werden. Nehmen Sie die Diskussion um die Souveränität: Souveränität darf nicht Selbstzweck sein. Wir müssen im Interesse unseres Wohlstands Kompromisse eingehen. Der Forschungsbereich ist für unseren Wohlstand absolut zentral. Unser Anliegen ist, dass das zuoberst auf der Agenda steht. Der Bundesrat muss jetzt handeln!

Sie geben der Regierung bis Ende Jahr Zeit, ein Assoziationsabkommen zu erreichen. Das ist sportlich.
Leuenberger:
Wenn der Bundesrat guten Willen zeigt und in einigen Monaten auf die EU zugeht, liegt das im Bereich des Möglichen. Allerdings spielt auch die EU ein gefährliches Spiel: Sie erpresst quasi die Schweiz und macht dasselbe mit UK. Den Kollateralschaden hat der Forschungsplatz Europa. Viele würden gerne mit uns zusammenarbeiten.

Als der Rahmenvertrag beerdigt wurde, haben von der SVP über Teile des Freisinns bis zu Gewerkschaftern und Private-Equity-Unternehmern viele die Konsequenzen relativiert. Ihre Meinung?
Hengartner: Vielleicht muss man selber in der Forschung tätig sein, um zu sehen, was dort los ist. Wir haben heute bereits Probleme bei der Rekrutierung. Ich weiss von Spitzenleuten, denen man ein Angebot für eine Professur gemacht hat, die jetzt sagen: Ich komme nicht in die Schweiz, weil ein anderer Ort stabiler und besser ist für mich.

Sie fordern Massnahmen, um die Situation zu entschärfen. Was meinen Sie konkret?
Leuenberger: Es braucht Initiativen, um den Schaden zu begrenzen. Im Vordergrund steht sicher der Ausbau der internationalen Forschungszusammenarbeit, das ist unabhängig von Horizon Europe ein wichtiges Anliegen.
Hengartner: Wir sind zum Beispiel nicht bei der Quantum-Forschungspartnerschaft dabei. Da könnten wir national etwas machen oder zusammen mit den Amerikanern und Israel. Solche Instrumente müssen entwickelt werden. Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation hat den Auftrag, die cleversten zu identifizieren. Dann liegt es an der Politik, diese zu bewilligen und zu finanzieren.

Sie scheinen nicht wirklich daran zu glauben, dass die Schweiz bald wieder voll bei Horizon mit dabei sein wird.
Hengartner:
Wir Forschenden sind gebrannte Kinder. Schon nach der Masseneinwanderungs-Initiative 2014 flogen wir aus dem Vorgängerprogramm von Horizon Europe. Nach zwei Jahren konnten wir aber eine gemeinsame Lösung finden. Als pragmatischer Optimist hoffe ich auf eine Einigung bis Ende Jahr. Aber diesmal könnte es in der Tat länger dauern.

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