Neandertaler – Menschen die an unserer Seite lebten. Als man 1856 ihre Existenz offenlegte, wurden sie lange Zeit nicht als unsere Gefährten durch die Erdgeschichte betrachtet, sondern als Gegner, als Verlierer der Evolution. Man stellte den Neandertaler als primitiven, grobschlächtigen Menschen dar, der dem Homo sapiens unterlegen war.
Allerdings zeichnet die moderne Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten ein ganz anderes Bild der Neandertaler, die rund 300’000 Jahre lang Eurasien bevölkerten, bis sie vor etwa 40’000 Jahren ausstarben. Über diese widerlegten Irrtümern und aufregenden Erkenntnisse berichten Rebecca Wragg Sykes in der «Times» sowie «arte».
Klirrende Kälte?
Lange Zeit wurde angenommen, dass Neandertaler nur die kältesten Eiszeiten unserer Erdgeschichte durchstreiften und daher an extreme Kälte angepasst waren. Abbildungen zeichnen sie in Fell und Leder eingemummt mit Kältebränden auf der Haut.
Allerdings weiss man heute, dass die Neandertaler stetig wechselnden Klimabedingungen ausgesetzt waren, wie «arte» und die «Times» aufzeigten. Sie erlebten zwischen den Eiszeiten (häufig Temperaturen um -20 Grad Celsius und ein niedriger Meeresspiegel) auch gemässigte Perioden, wie jene vor 140’000 bis 130’000 Jahren. Damals entstanden Wälder aus Eichen, Erlen und Eschen.
Darauf folgte vor etwa 120’000 Jahren eine starke Klimaerwärmung (2-4 Grad Celsius wärmere Temperaturen als heute und eine Erhöhung des Meeresspiegels von bis zu 8 Metern), bevor die letzte Eiszeit einsetzte. Das erforderte ein grosses Anpassungsvermögen dieser Menschen.
Geschick und Handwerk
Der Neandertaler war von einem tiefen Wissen über unsere Erde und eine Verbundenheit zur Natur geprägt. Das half ihm bei der Jagd, beim Sammeln von Rohstoffen und Nahrungsmitteln und natürlich bei seinen Wanderungen. Neandertaler kannten die verschiedenen Materialien, die ihnen Mutter Natur zur Verfügung stellte, und konnten sie optimal einsetzen.
So wurde diverses Gestein durch geschicktes Handwerk zu Werkzeug und Waffen verarbeitet. Die Neandertaler entwickelten die so genante Levallois-Technik – eine Abschlagtechnik zur Bearbeitung von Feuerstein. Steinwerkzeuge waren in der Welt der Neandertaler besonders wichtig. Damit wurden Essen, Kleidung und Holz fürs Feuer aufbereitet, wie die «Times» erläuterte.
Intelligent und zielgerichtet
Neandertaler gingen als phantastische Jäger in die Geschichte ein. Unter ihren grösseren Beutetieren waren Mammuts, Auerochsen, Wisente und Wollnashörner. Die Jagd und anschliessende Verarbeitung eines Tieres bedarf ausgereifter Methodik und einer Vielzahl an Werkzeug.
Man weiss heute: Diese Menschen waren in der Lage, komplexe Situationen zu planen. Sie organisierten die Jagd in der Gruppe und konzipierten Strategien dafür, so «arte». Die Neandertaler nutzten hohe Standorte, um ihre Umgebung zu überwachen. Weiter verlegten sie die Jagd in Gebiete mit Felsformationen und Canyons, wo sie ihre Beute in die Ecke treiben konnten. Sie teilten die Arbeit und deren Ertrag auf. Ausserdem waren sie fähig, spezifisches Werkzeug und Waffen für diverse Verwendungszwecke herzustellen – ein vorausschauendes und zielgerichtetes Handeln.
Wandern und orientieren
Der Neandertaler und der Homo sapiens teilen denselben Vorfahren. Während sich der Homo sapiens in Afrika ausbreitete, wanderten die Neandertaler nach Europa aus. Der Lebensraum des Neandertalers erstreckte sich von Frankreich bis Zentralasien und darüber hinaus, so die «Times». Nur einige Zehntausend Individuen besiedelten damals die eurasische Erdoberfläche. Sie lebten in kleinen Gruppen von rund 20 bis 30 Personen.
Die Neandertaler waren Nomaden und verteilten ihre diversen Aktivitäten auf mehrere, festgelegte Orte. Es gab spezielle Schlachtplätze zur Zerlegung der Beute, Vorratslager, Orte für die Gewinnung von Rohstoffen, Wohngebiete in geschützten Arealen und so weiter, wie «arte» aufzeigte. Die Neandertaler mussten sich also in grossen Gebieten perfekt auskennen.
Eine gemeinsame Sprache
Forscher konnten feststellen, dass sich unterschiedliche Neandertaler-Gruppen regelmässig trafen. Unter anderem wurden dabei Menschen ausgetauscht, um die genetische Vielfalt bei der Fortpflanzung zu erhalten.
Die Zusammenkünfte wurden aber auch für die Jagd auf grosse Tierherden genutzt. Für die Koordination solcher gemeinsamer Aktivitäten ist ein Kommunikationssystem erforderlich. Deswegen gehen Forscher davon aus, dass die Neandertaler eine rudimentäre Form von Sprache entwickelt hatten, so «arte».
Der starke Homo sapiens und der schwache Neandertaler?
Das Aussterben der Neandertaler wurde lange Zeit darauf reduziert, dass der Homo Sapiens vor rund 50’000 Jahren in Europa einfiel und sich dort ausbreitete. Allerdings fand man keine Hinweise auf einen Krieg zwischen den beiden Spezies.
Ausserdem gibt es Hinweise, dass sich der Homo sapiens bereits viel früher aus Afrika ausbreitete, als bisher angenommen – nämlich schon vor rund 150'000 Jahren. Diese ersten Auswanderer allerdings konnten sich in ihrem neuen Lebensraum nicht durchsetzen und wurden ebenso durch spätere Homo sapiens Populationen ersetzt wie der Neandertaler, wie die «Times» erläuterte.
Ein schneller Tod?
Mittlerweile hat die Forschung festgestellt: Neandertaler verschwanden langsam von dieser Erde. Für den Grund ihres Scheiterns gibt es verschiedene Theorien, wie etwa eine sehr allmähliche Verdrängung durch den Homo sapiens, das Klima-Chaos, die mangelnde Fortpflanzung oder einen Krankheitserreger, der vom Homo sapiens eingeschleppt wurde. Die mangelnde genetische Vielfalt könnte die Neandertaler geschwächt und anfällig für Krankheiten gemacht haben.
Es ist gut möglich, dass beim Aussterben der Neandertaler mehrere Faktoren zusammenspielten. Ausserdem dürfte ihr Verschwinden aus den verschiedenen Gebieten ihres grossen Lebensraums unterschiedlich abgelaufen sein, so die «Times».
Kein Kulturwesen?
Es ist vorstellbar, dass Homo sapiens durch Vorteile wie beispielsweise weiter entwickelte Jagdtechniken und Werkzeuge oder eine grössere soziale Verbundenheit langfristig bessere Überlebenschancen hatten als der Neandertaler.
Wissenschaftler stellten fest, dass Neandertaler in ihrer Kreativität und Innovationsfähigkeit eingeschränkt waren, so «arte». Während ihres gesamten Daseins veränderten sich ihre Werkzeuge so gut wie nicht. Mutmasslich fehlte ihnen hier eine gut ausgeprägte, gesprochene Sprache. Die Neandertaler besassen ein soziales System. Aber hatten sie auch eine gemeinsame Kultur?
Hier scheiden sich die Geister der Forschenden, wir «arte» aufzeigte. Einige Archäologen fanden seltene Hinweise auf darstellende Tätigkeiten der Neandertaler, wie aufgeschichtete Knochen oder Kreise aus Stalagmiten-Stücken, die keine praktische Funktion erfüllten. Ein Zeichen von Kunst? Ging es darum, auf der Welt persönliche Spuren zu hinterlassen? Andere Wissenschaftler sind der Meinung, dass den Neandertalern der Sinn für Symbole wie Schmuck oder Kunst, die eine Kultur prägen, weitgehend fehlten.
Eine Gemeinsamkeit
Fest steht: Homo sapiens und Neandertaler existierten lange Zeit nebeneinander in Eurasien und haben sich dabei auch untereinander fortgepflanzt. Diese Vermischung mit dem Homo sapiens könnte zum Verschwinden der Neandertaler beigetragen haben – sie wurden gewissermassen ausgedünnt.
Die entstandenen Kreuzungen haben in vielen heute noch leben Menschen ein genetisches Erbe der Neandertaler hinterlassen. Sind die Neandertaler also überhaupt vollständig fort oder leben sie gewissermassen in uns weiter?