Punkt 12 Uhr gestern Mittag läuten alle Glocken. Geschäfte senken ihre Rollläden. Die Menschen beten. Manche weinen. Sie gedenken der Toten des Gondel-Absturzes vom Pfingstsonntag. 14 Minuten lang. Eine Minute für jedes Opfer. Im norditalienischen Ferienort Stresa herrscht Staatstrauer.
Und dann ist da noch die Geschichte des kleinen Eitan (5). Sie bricht einem das Herz. Der kleine Bub hat als einziger das Unglück überlebt, liegt mit schweren Verletzungen an Kopf, im Brust- und Bauchbereich sowie mit gebrochenen Beinen auf der Intensiv-Station des Turiner Spitals Regina Margherita. Sein Zustand ist noch immer lebensbedrohlich.
«Es ist ein Drama im Drama», sagt Giovanni La Valle, Direktor des Krankenhauses. Der kleine Israeli hat beim tragischen Absturz seine Eltern, seinen zweijährigen Bruder und seine Urgrosseltern verloren. Er wurde in den Armen seines toten Vaters gefunden. Der Mann hatte den Sohn, als die Gondel in die Tiefe raste, offenbar verzweifelt an sich gepresst, um ihn zu schützen.
«Wir steigen auf ins Paradies»
Noch 20 Minuten vorher war die Welt am Lago Maggiore in bester Ordnung. Die Sonne wärmte wie an einem Sommertag. Der Himmel zeigte sich glasklar. Nach dem zweiten Lockdown lief die Seilbahn endlich wieder. Touristen standen Schlange an der Basisstation in Stresa. Sie wollten auf den Hausberg, das Panorama über dem See und den Blick auf die Borromäischen Inseln geniessen. Neben den Israelis stiegen Mitglieder von drei weiteren Familien in die Gondel. Es sind Italiener aus der Lombardei, aus Emilia-Romagna und Kalabrien. Nur 15 Passagiere durften rein. Auf einen Gondelführer wird verzichtet. Corona-Abstandsregel.
Die Gondel setzte sich in Bewegung. Eine Frau (40) sandte ihrer Schwester eine begeisterte Message: «Wir steigen auf ins Paradies.» Kurz vor der Endstation nahm die Tragödie dann ihren schrecklichen Lauf. Ein Augenzeuge erzählte gegenüber «La Stampa»: «Ich war gerade an der Bergstation, da sehe ich, wie eine Gondel rückwärts an mir vorbeischiesst. Sie schien völlig ungebremst. Zweimal schwankte sie heftig auf und ab. Am ersten Mast löste sie sich endgültig vom Seil und stürzt senkrecht in die Tiefe», erzählt Alex Bennet, «ich werde die Bilder nicht mehr los. In dem Augenblick hoffte ich nur, dass die Gondel leer sei. Denn Schreie habe ich keine gehört».
Riss ein Stahlseil?
Die rotweisse Gondel prallte nach 30 Metern freien Falls hart auf. Der Hang ist steil. Die Kabine rollte, überschlug sich, bis zwei Bäume sie auffangen. Zehn Menschen wurden herausgeschleudert. Als die Bergungs- und Rettungsmannschaften anrückten, lebten noch drei der Unfallopfer. Zwei Kinder und eine Erwachsene. Drei Helikopter waren im Einsatz. Die Frau starb noch vor Ort. Eitan und ein weiterer Bub (†6) wurden nach Turin geflogen. Neun Stunden später hörte das Herz des sechsjährigen Italieners auf zu schlagen.
Wie konnte das Unglück passieren? Es gibt keine brennendere Frage in diesen Tagen am Lago Maggiore. Die Seilbahn war erst vor fünf Jahren für über vier Millionen Euro generalüberholt worden. Die Zugseile bestehen aus drei kräftigen Strängen, die miteinander verflochten sind. Und sie werden jeden November gewartet.
Als die Gondel talabwärts rast, hätten sich automatisch Bremsklötze an der Verankerung aktivieren müssen, um die Gondel ans Tragseil zu klammern. Doch auch dieses elektronisch gesteuerte Bremssystem versagt. War eine manuelle Notbremse an Bord? Und wenn ja, wurde sie nicht bedient, weil kein Gondelführer an Bord war?
Kaum Antworten auf Fragen zur Unfallursache
Über eine Stunde stehen gestern nationale und internationale TV-Teams und Reporter vor dem Eingang des Kongress-Zentrums von Stresa. Sie haben Fragen. Die angekündigte Pressekonferenz beginnt mit grosser Verspätung. Anwesend sind Italiens Verkehrsminister, der Präsident der Region, die Bürgermeisterin, der Chef des Zivilschutzes. Doch auf Antworten warten die Journalisten vergebens. Es gibt eine kurze Erklärung des Ministers Enrico Giovannini (65). Man stehe den Familien der Opfer bei und hoffe auch baldige Ermittlungsergebnisse. Fragen sind nicht erlaubt.
Die Staatsanwaltschaft von Verbania jedenfalls ermittelt wegen schuldhaftem Verursachens einer Katastrophe, mehrfacher fahrlässiger Tötung und Körperverletzung. Im Visier stünden einige Unternehmen, darunter der Seilbahnbetreiber und die Wartungsgesellschaft, schreibt «La Stampa».
«Es kamen schon wieder Touristen zu uns. Darunter viele Schweizer», sagt Marcella Severino (53) gegenüber Blick. Von ein wenig Glück im Unglück spricht Stresas Bürgermeisterin dennoch. Wegen Corona seien nur 15 statt der möglichen 40 Passagiere zugelassen worden, «sonst hätte es womöglich noch mehr Opfer gegeben», so Severino.