Das kleine baltische Land ist Vorreiter beim digitalen Unterricht
Die Esten sind die Besten

Einst als Sowjetstaat abgehängt, nun bei der Digitalisierung weltweit führend: Das kleine Estland hatte bei der Umstellung auf Fernunterricht kaum Probleme, weil die Infrastruktur bereits vorhanden und in Gebrauch war.
Publiziert: 28.04.2020 um 23:15 Uhr
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Aktualisiert: 29.04.2020 um 09:29 Uhr
Die Esten sind die Besten
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Kein Problem mit E-Schooling:Die Esten sind die Besten
Guido Felder

Fast unbemerkt haben sich die ehemals sowjetischen baltischen Staaten zu Vorreitern der Digitalisierung entwickelt. Vor allem Estland, flächenmässig nur wenig grösser als die Schweiz (aber mit fast siebenmal weniger Einwohnern), gehört im Fernunterricht zu den Pionieren.

Praktisch alle Schulen nutzen estnische Web-Applikationen für die Kommunikation zwischen Schülern, Lehrern und Eltern. Seit einigen Jahren müssen alle Schulbücher digital vorhanden sein, das Unterrichtsmaterial ist komplett digital und interaktiv. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (65) nennt Estland stets ein Vorbild der Digitalisierung. Die Esten bezeichnen ihr Land gerne als «E-Estonia».

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Mona bekommt von der Kindergärtnerin ein neues Thema zugeteilt. Sämtliche Schulbücher sind in Estland digital.
Foto: Zvg

Schnell umgestellt

Wegen der fortgeschrittenen Digitalisierung war es für die Esten in der Corona-Krise ein Leichtes, die Schulen schnell auf Fernunterricht umzustellen. Die Deutsche Ulrike Rohn (43), Professorin für Medienmanagement und Wirtschaft, lebt seit elf Jahren in der Hauptstadt Tallinn und hat mit ihrer Familie gute Erfahrungen mit dem System gemacht. Zu BLICK sagt sie: «Was mir hier auffällt, ist, dass die Schüler schon ab der ersten Klasse ins Zentrum des E-Schoolings gerückt werden. Es sind nicht die Eltern, sondern immer die Kinder, die von den Lehrern über die Plattform angesprochen werden, den Tagesplan und Aufgaben erhalten und ein Feedback geben können.»

Bei ihrem Sohn Joonas (8), der in die erste Klasse geht, hat sie eine überraschende Feststellung gemacht: «Er hat in Bezug auf Selbständigkeit, Computerkenntnisse und Selbstbewusstsein einen wahnsinnigen Entwicklungssprung vollzogen.» Sie weiss: «Das ging nur so schnell, weil die ganze Infrastruktur schon vorhanden war.»

Tochter Mona (6) bekommt von ihrer Kindergärtnerin jeweils ein Wochenthema zugeteilt: Einmal in der Nachbarschaft spazieren und etwas Typisches zeichnen, ein andermal – inspiriert von einem Buch – ein Bild malen. Ihre Musiklehrerin bringt den Kindern über einen eigenen Youtube-Kanal Lieder bei, die Sportlehrerin lädt zu einem Wettbewerb ein – zum Beispiel, wer am längsten mit einem Ball dribbeln kann. Ulrike Rohn: «Die Lehrer sind sehr engagiert und kreativ bei den Aufgaben.»

Schon Erstklässler mit Smartphone

Zwar bekommt praktisch jedes Kind schon bei der Einschulung ein Smartphone, nicht alle aber haben einen Computer. Bei Ausbruch der Corona-Krise hat es daher Spendenaktionen gegeben, bei denen alte, nicht mehr benötigte Geräte gesammelt und verteilt wurden.

Auch wenn die Kinder viel an Selbständigkeit zugelegt haben, braucht es immer noch die enge Betreuung durch die Eltern. «Man muss stets dabei sein und bei Fragen zur Seite stehen», sagt Ulrike Rohn. Sie schätzt das Privileg, das sie und ihr Mann haben: Beide arbeiten als Professoren an der Universität und können sich die Zeit im Homeoffice mehr oder weniger frei einteilen.

Digital-Turbo nach Unabhängigkeit

Die Esten treiben die Digitalisierung seit der Zerschlagung der Sowjetunion und der Wiedererlangung ihrer Unabhängigkeit 1991 in rasantem Tempo voran. Verantwortlich dafür: junge Männer in der Regierung, die sich für Technik interessierten. 1996 wurden beim Programm «Tiigrihüpe» (Tigersprung) öffentliche Internetzugänge eingerichtet und alle Schulen mit dem Internet verbunden. Schnell siedelten sich IT-Firmen an. Die Schulen, die Verwaltung, das Gesundheitswesen: Alles läuft heute digital. 2005 wurde erstmals übers Internet gewählt, der Zugang zum World Wide Web ist zu einem Grundrecht geworden.

Bedenken wegen Datenschutz gibt es kaum – und wenn, dann betreffen sie vor allem amerikanische Plattformen wie Google. Daher hat Ulrike Rohns Ehemann Indrek Ibrus (45), Professor für Medieninnovation, die Idee lanciert, fürs E-Learning eigene estnische Plattformen aufzubauen und zu unterstützen. Schon hat das Bildungsministerium den Ball aufgenommen und befindet sich an der Planung.

Datenspeicher in Luxemburg

Auch bei der Sicherheit und Speicherung der Daten geht Estland neue Wege. 2007 hatten schwere, möglicherweise von Russland ausgegangene Cyberangriffe viele Internetdienste lahmgelegt. Ende 2019 waren es Ratten, die zwischen Datenzentren in Tallinn Erdkabel anknabberten und bei mehreren Online-Angeboten stundenlang für Mattscheibe sorgten. Inzwischen hat Estland in Luxemburg – weit weg von seinem östlichen Nachbarn – eine «Data Embassy» aufgebaut, ein Back-up für alle Daten des Landes.

Ulrike Rohn vertraut dem System und den heutigen Sicherheitsmassnahmen. «Die estnischen Plattformen sind durch das sichere Login mit der estnischen Identitätskarte oder per Handy geschützt. Eine solche Authentifizierung ist Standard, allen vertraut und sicher.»

Kleines Land ganz gross

Fläche: 45’339 km² (Schweiz: 41'285 km²)
Einwohner: 1,32 Millionen (Schweiz: 8,5 Millionen)
BIP* pro Kopf: 19’840 Dollar (Schweiz: 83’161 Dollar)
Sprache: Estnisch
Unabhängigkeit: 1918, 1991 (von der Sowjetunion)
Nationalfeiertag: 24. Februar

* Bruttoinlandprodukt nominal

Fläche: 45’339 km² (Schweiz: 41'285 km²)
Einwohner: 1,32 Millionen (Schweiz: 8,5 Millionen)
BIP* pro Kopf: 19’840 Dollar (Schweiz: 83’161 Dollar)
Sprache: Estnisch
Unabhängigkeit: 1918, 1991 (von der Sowjetunion)
Nationalfeiertag: 24. Februar

* Bruttoinlandprodukt nominal

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