«Die EU hat Erdogan in die Hände gespielt»
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Krise in Griechenland:«Die EU hat Erdogan in die Hände gespielt»

BLICK trifft auf Lesbos den Europa-Abgeordneten Erik Marquardt
«Die EU hat Erdogan in die Hände gespielt»

Der grüne Europa-Abgeordnete Erik Marquardt ist der aktuell wichtigste politische Beobachter auf Lesbos. Im BLICK-Interview mahnt er die EU-Spitze zur Besonnenheit.
Publiziert: 09.03.2020 um 23:35 Uhr
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Aktualisiert: 10.03.2020 um 11:00 Uhr
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Erik Marquardt fordert einen neuen EU-Deal mit der Türkei.
Foto: zVg
Interview: Fabienne Kinzelmann aus Lesbos (Griechenland)

Erik Marquardt (32) ist müde, hat Kopfschmerzen und muss dringend seine Kleider waschen. «Das mach ich damit einfach im Waschbecken», sagt er und zeigt auf ein Shampoo, das er gerade gekauft hat. Wenig glamourös für einen Europa-Abgeordneten, aber notwendig. Marquardt wollte sich eigentlich nur die Situation der 20'000 Flüchtlinge – darunter 7000 Kinder – auf Lesbos anschauen. Jetzt ist er seit zwei Wochen da und berichtet auf Twitter und in Interviews von der Insel, die wie kaum ein anderer Ort für die europäische Flüchtlingskrise steht.

BLICK: Sie wollten nur ein paar Tage bleiben – warum sind Sie immer noch auf Lesbos?

Erik Marquardt: Die Situation hat sich wirklich dramatisch entwickelt. Nach der Ankündigung von Erdogan, die Grenzen zu öffnen, haben die EU-Mitgliedstaaten, die Regierungen und die EU-Kommission den Eindruck erweckt, man sei in einer riesigen Krise. Dabei sind auf Lesbos zum Beispiel nur wenige Hundert Menschen angekommen.

Also keine Flüchtlingskrise wie 2015?

Nein. Die Krise war nicht, dass Menschen hier angekommen sind, sondern die Krise war, dass Rechtsstaatlichkeit nicht mehr in Kraft war, dass Menschenrechte ausgesetzt wurden und dass marodierende Banden auf der Insel völlig freien Lauf hatten. Die haben Jagd auf Journalisten, auf Hilfsorganisationen gemacht und auch auf Geflüchtete. Viele Hilfsorganisationen können jetzt nicht mehr arbeiten, das ist eine humanitäre Katastrophe.

Was hat die EU falsch gemacht?

Sie hätte in dieser Situation viel besonnener reagieren müssen. Man kann Erdogan zu Recht vorwerfen, dass er Menschen für sein politisches Spiel missbraucht, dass er auf dem Rücken dieser Menschen Politik macht. Aber da darf man doch nicht sofort mit Tränengas und Gewalt gegen die Schutzsuchenden reagieren. Die EU hat Erdogan damit in die Hände gespielt. Jetzt kann er auf Europa zeigen: Schaut her, die wollen mir etwas von Menschenrechten erzählen, die wollen mir was von Rechtsstaatlichkeit sagen ...

Wie kommt die EU aus der Sackgasse wieder raus?

Sie muss in der Rhetorik abrüsten. Es ist ja nicht so, dass Bomben auf Europa fallen, sondern es sind einige wenige Boote auf Lesbos angekommen, mit Männern, Frauen und Kindern. Die kann man humanitär ordentlich versorgen. Da kann man auch der europäischen Bevölkerung sagen: Wir haben die Situation völlig unter Kontrolle. Wir können damit umgehen und wir werden jetzt erst einmal eine Sicherheitsüberprüfung durchführen. Wir richten einige Kontingente ganz kontrolliert und in einem überschaubaren Masse ein, um Leute von den griechischen Inseln zu evakuieren und deren Asylanliegen auch schnell rechtsstaatlich zu prüfen.

EU-Neuling Erik Marquardt

Mit dem Erfolg der deutschen Grünen bei der Europawahl 2019 zog auch der Berliner Erik Marquardt (32) ins EU-Parlament ein. Der vergleichsweise junge Politiker arbeitete zuvor als Fotojournalist und war mehrfach entlang von Fluchtrouten und in Krisenregionen unterwegs. Er fordert sichere Fluchtwege in die EU.

Mit dem Erfolg der deutschen Grünen bei der Europawahl 2019 zog auch der Berliner Erik Marquardt (32) ins EU-Parlament ein. Der vergleichsweise junge Politiker arbeitete zuvor als Fotojournalist und war mehrfach entlang von Fluchtrouten und in Krisenregionen unterwegs. Er fordert sichere Fluchtwege in die EU.

In der Türkei leben bereits 3,6 Millionen Flüchtlinge, aus der Region Idlib sind rund eine Million weitere Menschen auf der Flucht. Wer muss die aufnehmen?

Die Menschen müssen gut versorgt werden – und dafür nicht erst nach Europa müssen. Der grosse Fehler beim Flüchtlingsdeal der EU mit der Türkei war, dass Erdogan die EU erpressen konnte. Wenn man von ihm erwartet, dass er eine Million aus Idlib menschenwürdig aufnimmt, muss man mit ihm reden und eine Situation finden, in der beide Seiten gesichtswahrend aus der Situation rauskommen.

Wie schafft die EU das?

Erdogan wird Geld brauchen, um die Menschen gut zu versorgen. Und er muss seiner Bevölkerung klarmachen können, warum ein Deal nützt. Die EU muss aber auch ihre Hausaufgaben in Europa machen, um nicht wieder so leicht erpressbar zu sein. Die 27 Mitgliedsländer müssen zusammenstehen und dürfen nicht in Panik verfallen. Die Linie muss klar sein: Vielleicht kommen hier an der Grenze ein paar Schlauchboote an – aber Europa schiesst nicht.

Erdogan haut nach EU-Treffen einfach ab

Recep Tayyip Erdogan (66) hat die EU in ein Dilemma gebracht. Vor gut einer Woche hat der türkische Präsident seine Grenzen geöffnet und die Währungs- und Wertegemeinschaft mit Tausenden schutzsuchenden Menschen konfrontiert, die er ihr seit 2016 gegen Milliarden vom Hals gehalten hatte. Trotz der Differenzen will die EU am Flüchtlingsdeal mit der Türkei festhalten. Das sagte EU-Chefin Ursula von der Leyen (61) nach einem Treffen am Montagabend in Brüssel. Ob die Türkei das auch so sieht – dazu schwieg die EU-Spitze. Genauso wie der türkische Machthaber selbst: Er verliess Brüssel ohne jegliches Statement.

Recep Tayyip Erdogan (66) hat die EU in ein Dilemma gebracht. Vor gut einer Woche hat der türkische Präsident seine Grenzen geöffnet und die Währungs- und Wertegemeinschaft mit Tausenden schutzsuchenden Menschen konfrontiert, die er ihr seit 2016 gegen Milliarden vom Hals gehalten hatte. Trotz der Differenzen will die EU am Flüchtlingsdeal mit der Türkei festhalten. Das sagte EU-Chefin Ursula von der Leyen (61) nach einem Treffen am Montagabend in Brüssel. Ob die Türkei das auch so sieht – dazu schwieg die EU-Spitze. Genauso wie der türkische Machthaber selbst: Er verliess Brüssel ohne jegliches Statement.

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