Es ist schwierig, diese Zeilen zu schreiben. Die Hand zittert, das Herz rast. Immer wieder greift man zum Telefon, wählt die verschiedenen Nummern. Bislang meist vergebens. Die Verbindungen nach Japan sind gestört. Handy geht gar nicht. Mit Glück steht für Sekunden eine Leitung im Festnetz. Man starrt auf Facebook, in der Hoffnung auf eine Nachricht.
Mein Mann, Tomoya Watanabe (69), ist Japaner. Seine Tochter Shikibu (36) arbeitet in Tokio. Auch seine vier Geschwister leben in der Umgebung. Von einigen haben wir Nachricht. Von anderen wissen wir nicht, wie es ihnen geht.
Aufzüge gehen nicht mehr
Tomoya erreicht endlich seine Schwester Michiko (65). Sie wohnt im Erdgeschoss eines Hochhauses in Yokohama. «Ich bin okay», sagt sie, «aber ich mache mir Sorgen um meine Tochter Sairi (37). Sie ist im 19. Stock gefangen. Die Aufzüge gehen nicht mehr. Sie hat Angst, klammert sich an ihre Katze. Die Wohnung ist verwüstet. Schränke sind umgestürzt. Bücher, Geschirr, alles auf dem Boden. Sairi weint.»
Endlich gibt es auch ein Lebenszeichen von Shikibu. Sie sitzt im Büro ihrer Bank, im 37. Stockwerk, als das Beben zuschlägt. Die Schwankungen sind enorm. Fast eine halbe Stunde lang schwingt der Wolkenkratzer nach. Shikibu und die Mitarbeiter stürmen die Treppen hinunter, raus auf die rettende Strasse.
Shikibu hat nur ein Ziel: ihr Grosi. Die alte Dame ist 90, lebt allein in ihrer Wohnung im Zentrum der Millionenmetropole. Über Facebook erfahren wir: «Hier ist alles gut. Keine Sorge. Bin bei Oma und kümmere mich um sie. Hier herrscht Chaos, alles kaputt. Tel. funktioniert nicht. Melde mich wieder.»
Noch keine Spur von der älteren Schwester
Wir erreichen nun auch Sairi. Sie erzählt: «So ein Monsterbeben habe ich noch nie erlebt. Es ging über mehrere Minuten. Erst waren es waagerechte Schwankungen, dann ging es stark auf und ab. Ich hatte Todesangst.» Sairi und Ehemann Yoichiro (52) leben auf einer Anhöhe über Yokohama. Sie schauen auf den Hafen. «Wir sehen die Raffinerien brennen. Es ist schrecklich», sagt Sairi.
Keine Spur gibts bislang von Tomoyas älterer Schwester Hideko Asahina (76). Sie lebt in Kamakura an der Küste.
In unserer Tessiner Wohnung läuft nonstop N-TV. Wir verfolgen live ein unbeschreibliches Inferno. Eine Katastrophe, welche Angehörige und Freunde bedroht. Wir fühlen uns ohnmächtig, ausgeliefert.
Erinnerungen an das Beben von 95
Es sind Bilder, die alte Wunden aufreissen. Brennende Stadtviertel. Aufgebrochene Strassen. Eingestürzte Häuser, Tunnel, Brücken. Tote. Schrecken. Angst. Leid.
Das haben wir alles schon einmal erlebt. Im Januar 1995, als ein Erdbeben Kobe erschütterte. Tomoya und ich lebten damals in Sakai City. Obwohl 50 Kilometer Luftlinie von der Katastrophenregion entfernt, bebte auch in Osaka eine halbe Minute lang die Erde. Die Fensterscheiben schepperten in ihren Fassungen, Teller flogen aus dem Regal.
Es war ein sonniger Tag. Plötzlich zogen schwarze, dichte Wolken auf. Ich dachte: ein Unwetter. Doch es war eine gigantische Rauchwolke, die den gesamten Horizont komplett bedeckte. Kobe brannte. Eine ganze Stadt stand in Flammen. Und das fast eine ganze Woche lang.
Tomoya und ich lauschen den Nachrichten. Was es damals in Kobe nicht gab, war das Wasser. Wir müssen mitansehen, wie die Flutwellen die Küsten des Nordostens überrollen. Man spricht von 20, dann von 50, dann von über Tausend Toten. Tomoya und ich fürchten viel Schlimmeres. Damals in Kobe wuchs die Zahl der Opfer auf über 6000. Denn mit dem Beben ist die Katastrophe noch nicht vorbei.
* Myrte Müller war von 1992 bis 2000 als Japan-Korrespondentin für «Bild», «Hamburger Abendblatt» und «Die Welt» in Osaka tätig.
Sie heiratete ihren Mann Tomoya Watanabe 1993 erst standesamtlich, dann shintoistisch.