Leise tickt die Wanduhr. Eine Frau sitzt in ihrer Küche, weisse Haare, Morgenmantel. «Damals dröhnten die Gewehre und Granaten», erinnert sie sich und nimmt einen Schluck Kaffee. «Jetzt ist der Krieg still geworden. Aber er ist nicht weniger entsetzlich.» Für eine Mutter, die ihre Kinder nicht begraben hat, ist der Krieg nie zu Ende.
In seinem Film «Die DNA der Würde» (2022) erzählt der Berner Jan Baumgartner (35) die Geschichte der Frau, die noch heute darauf wartet, dass die menschlichen Überreste ihres Sohnes gefunden werden. Sie steht stellvertretend für die unzähligen Hinterbliebenen der Balkankriege (1991–1999). Damals, als Jugoslawien grausam und blutig auseinanderfiel, als aus Nachbarn Feinde wurden.
Jetzt ist der Dokumentarfilm «Die DNA der Würde» an den Solothurner Filmtagen ab 18. Januar für den Prix de Soleure nominiert – einen der bedeutendsten Filmpreise in der Schweiz.
11'000 Menschen werden vermisst
Heute ist es Baumgartner, der einen Schluck Kaffee nimmt. Er sitzt in einem Restaurant, gleich neben dem Hauptbahnhof. Aufgewachsen ist er hier in Bern, mit 16 Jahren kam er durch ein Austauschprogramm seiner Schule zum ersten Mal in den Balkan. Zwei Wochen Kroatien, eine Woche Bosnien. Heute ist die Region sein zweites Zuhause.
Noch zu oft seien die Balkanländer mit negativen Vorurteilen belastet. «Dabei ist es eine wunderschöne Region mit unglaublich liebenswürdigen Menschen», sagt Baumgartner. Er wurde mit offenen Armen empfangen, schloss viele Freundschaften. Ihn beeindruckte, wie es die Menschen damals geschafft hatten, inmitten der Zerstörung und Armut weiterzumachen. «Noch heute erinnern an den meisten Häusern Einschusslöcher an den Krieg.»
Einen grossen Teil seines Lebens verbringt er «unten», wie er sagt. Inzwischen hat Baumgartner Bosnisch gelernt. Viele der Gespräche mit seinen Freunden drehen sich irgendwann einmal um den Konflikt, der das Leben nach wie vor täglich beeinflusst. «Viele haben im Balkan eine eigene Leidensgeschichte, haben entweder Vater, Kinder, Tante oder die Grosseltern an den Krieg verloren», sagt Baumgartner.
30 Jahre nach Kriegsbeginn werden noch immer rund 11’000 Menschen vermisst. Vor vier Jahren ging Baumgartner deshalb in das Büro der Internationalen Kommission für vermisste Personen (ICMP) in Sarajevo. Über 40 Länder unterstützt die Kommission bei der Suche nach Vermissten. Seine schriftlichen Anfragen für eine Drehgenehmigung waren unbeantwortet geblieben. Doch sein Ziel war: das Team in Bosnien für seinen Film zu begleiten.
Im Balkan brodelt es weiter
Knochen für Knochen zieht die Forensikerin aus dem Plastiksack. Dreht sie hin und her, untersucht sie ganz genau. Der Mensch, dessen Überreste sie da in den Händen hält, ist im Krieg gefallen. Sie setzt ihn wieder zusammen, wie bei einem Puzzle. Das Team der ICMP besteht aus Knochenspezialisten, forensischen Archäologen, auch die Staatsanwaltschaft und Polizei sind involviert. Oft geben Informantinnen und Angehörige entscheidende Hinweise bei der Suche nach anonymen Massengräbern.
Konnte man anfangs noch Satellitenbilder von vor und nach dem Krieg miteinander vergleichen, umwuchert die wilde Natur immer mehr Gräber und verwischt die Spuren. Es ist ein Rennen gegen die Zeit. Mit einer Art Kreissäge fräst die Forensikerin ein fingergrosses Stück aus dem Skelett. Für die DNA-Analyse. Ob Bosniake, Serbe oder Kroate ist egal. Knochen für Knochen erhält der Mensch im Idealfall wieder einen Namen, eine Identität.
Immer wieder brodelt es im Balkan. In den letzten Wochen flammte der Konflikt zwischen Serbien und Kosovo auf, was im ganzen Balkan alte Kriegswunden aufzubrechen droht. Baumgartner sagt: «Eine so grosse Spannung wie im letzten Jahr habe ich im Balkan noch nie gespürt.»
Die Politik blockiert sich gegenseitig, wie in Bosnien, wo Bosniaken, Serben und Kroaten gemeinsam regieren sollten. Eine Situation, die gerade die junge Generation belaste. Zu stark seien sie von den richtigen Beziehungen oder Partei abhängig, um Jobs zu kriegen. Oft erhielten sie keine fairen Chancen. Viele suchen deshalb Arbeit im Ausland, getrennt von ihren Familien. «Ein wenig mehr Sicherheit und politische Stabilität – und ich denke, viele von ihnen würden bleiben», sagt Baumgartner.
Im Film ging es ihm nicht darum, die Schuldfrage zu stellen. Deshalb nennt er keine Tatorte, Religionen oder Täter. Er verzichtet auf schnelle Schnitte und schockierende Bilder, setzt dafür auf Feingefühl. «Ich will zeigen, dass es Hoffnung gibt: Jeder identifizierte Mensch zeigt den Hinterbliebenen, dass es nach wie vor so etwas wie Recht und Aufarbeitung gibt, dass die Schicksale ihrer Liebsten gewürdigt werden.»
Baumgartner hat keine Angehörigen an den Krieg verloren. Diese externe Position möchte er so vorsichtig und würdevoll wie möglich nutzen, um eine Diskussion anzuregen. Eine Diskussion unter anderem darüber, dass Krieg weit über Waffenstillstände oder Friedensverträge hinaus grausam bleibt – ein Leben lang. Für alle Beteiligten.
Ihn berühren die Geschichten der Menschen
Baumgartner blickt über Bern. Inzwischen sind wir durch die Stadt spaziert. Hinter ihm das Bundeshaus, unter ihm die Aare. Für dieses Treffen hat er den Anfang der Woche vorgeschlagen, weil er dann «noch nicht so fertig von der Arbeit» ist. Er zeigt auf die Dächer. Unter zwölf von ihnen wird er heute Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen, Krebspatienten oder Menschen mit Suchtproblematik in ihrem Alltag unterstützen. Zwischen seinen Filmprojekten arbeitet er als Pflegefachmann für die Spitex.
Mit seiner Ausbildung könnte er auch im Spital arbeiten, wo die Eigenverantwortung etwas kleiner, die Hierarchie klarer wäre. Doch es sind die Leben und Geschichten der Menschen, die Baumgartner berühren. Von der einsamen Villa weiter zum Sozialhilfeempfänger im Hochhaus: «Man kann sich kaum vorstellen, wie unterschiedlich die Leben sind, in die man jeden Tag hineinsieht», sagt er. In ihrem gewohnten Umfeld, ihrem Zuhause bleiben zu können, bedeute den Menschen viel. «Es geht um Menschlichkeit, um Würde. Trotz Zeitdruck und Stress in der Pflege.»
Ein Traum wird wahr
Dass sein Film nun für den Prix de Soleure nominiert ist, freut Baumgartner. Früher habe ihn sein Vater immer an die Solothurner Filmtage mitgenommen. Dieses Mal ist sein eigener Film dabei. Der Autodidakt hat sich das Filmemachen selbst beigebracht.
Als er seinen Freunden aus dem Balkan von der Filmidee erzählte, sei die erste Reaktion gewesen: «Darüber wissen wir doch schon alles.» Doch dann berichtete Baumgartner von den wissenschaftlichen Fortschritten des ICMP. Die Überraschung war gross, seine Freunde wollten mehr wissen. Nach wie vor ist der Krieg ein höchst emotionales Thema. Baumgartner hofft, dass sein Film nach Solothurn an vielen anderen Orten gezeigt wird. Vor allem natürlich im Balkan, seiner zweiten Heimat.