Wenn die Ukraine der EU jetzt beitreten würde, wäre sie eines der grössten Mitgliedsländer – und das bei weitem ärmste. Nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) betrug das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt der Ukraine im vergangenen Jahr 4872 Dollar. Das ist weniger als die Hälfte des derzeit ärmsten Mitglieds, Bulgarien, mit 11'683 Dollar.
Jetzt ist die Ukraine offiziell ein EU-Beitrittskandidat. Laut dem Korruptionsindex von Transparency International wäre die Ukraine Stand heute auch das korrupteste Land Europas, auf Platz 122 von weltweit 180 gelisteten Ländern. Derzeit gilt Bulgarien auf Rang 78 als das korrupteste EU-Land, knapp vor Ungarn auf dem 73. Rang. Der international gebräuchliche Referenzindex führt die Ukraine ein paar Plätze vor Russland auf (Platz 136).
Der Korruptionsindex untersucht unter anderem Bestechung, Vetternwirtschaft, Veruntreuung von öffentlichen Geldern und Beamte, die ihr öffentliches Amt zur privaten Bereicherung nutzen, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Das schlechte Korruptionsranking bedeutet, dass in der Ukraine ohne Bestechungsgelder wenig geht – kleine Summen beim Arztbesuch, Milliardenbeträge im ganz Grossen.
Frustrierter EU-Rechnungshof
In seinem jüngsten Bericht stellte der EU-Rechnungshof fest, dass die EU-Hilfe für Reformen in der Ukraine unwirksam gegen Korruption auf höchster Ebene sei. Unterstützung und ergriffene Massnahmen hätten nicht zu den erhofften Ergebnissen geführt, so die Prüfer. «Obwohl die Ukraine Unterstützung unterschiedlichster Art vonseiten der EU erhält, untergraben Oligarchen und Interessengruppen nach wie vor die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine und gefährden die Entwicklung des Landes.»
7,8 Milliarden Euro an EU-Geldern flossen nach Kiew, wobei sich an der «omnipräsenten Korruption» nichts geändert habe, hiess es im September 2021 von den Hütern der EU-Finanzen. Gelder werden zwar an Bedingungen geknüpft, die Bereicherung zulasten von Bürgern floriert weiter. Neun Monate nach den ernsten Worten aus Brüssel kürt die EU die Ukraine zum Beitrittskandidaten.
Gigantischer Geldbedarf
Doch nicht nur die endemische Korruption beim EU-Beitrittskandidaten bedeutet für Brüssel eine herkulische Herausforderung. Das Land ficht einen heroischen Kampf gegen die russischen Invasoren. Im Land herrschen Notgesetze, mit eingeschränkten Freiheits- und Persönlichkeitsrechten.
Ununterbrochen wird Infrastruktur zerstört, an Investitionen ist nicht zu denken. Der Krieg kostet jeden Tag Hunderte von Menschenleben. Es fehlt an allem, besonders an Waffen und Geld. Dies im Armenhaus Europas, das der Krieg noch um einiges ärmer macht.
Das Land benötigt Milliardenzuschüsse von aussen, womit die EU zum Hauptgeldgeber avancieren dürfte. Damit die Ukraine einigermassen funktionsfähig bleibt, rechnet der IWF mit einem «externen Finanzierungsbedarf» von fünf Milliarden Euro. Pro Monat. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (63) gibt sich optimistisch. «Wir werden die Ukraine wieder aufbauen.»
EU-Beitrittsstatus weitgehend «symbolisch»
Dabei versteht die EU die Verleihung des Beitrittsstatus eher als eine «politische Geste», die ein «starkes Signal» an Russland sende, wie der französische Präsident Emmanuel Macron (44) am Donnerstag sagte. Auch andere EU-Staats- und Regierungschefs warnten, dass der Status weitgehend symbolisch sei. Erst seien noch Jahre von Reformen und Verhandlungen erforderlich, bevor eine tatsächliche Mitgliedschaft in Aussicht stehe. (kes)