Bei uns kennt ihn kaum jemand
Dieser Schweizer wird in Japan als Held gefeiert

Marcel Junod reiste im Sommer 1945 als erster ausländischer Arzt nach Hiroshima und rettete Tausenden das Leben. Seine Warnung vor der apokalyptischen Zerstörungskraft der Atombombe ist aktueller denn je.
Publiziert: 06.08.2025 um 10:52 Uhr
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Aktualisiert: 06.08.2025 um 12:36 Uhr
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Krieger ohne Waffen: Marcel Junod (1904–1961)
Foto: IKRK Archiv

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Peter Aeschlimann
Beobachter

Am 2. September 1945 erreicht den Schweizer Arzt Marcel Junod ein Telegramm, das ihn zutiefst beunruhigt: «Hiroshima besucht, Zustände entsetzlich, ganze Stadt ausgelöscht.» Absender ist Fritz Bilfinger, wie Junod Delegierter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Japan.

Bilfinger berichtet von mysteriösen Todesfällen. Dass Menschen, die sich zunächst erholt hätten, plötzlich Rückfälle erleiden und «in grosser Zahl» sterben würden. Es mangle an Verbandsmaterial und Medikamenten für die über 100’000 Verwundeten.

Fritz Bilfingers Telegramm ans IKRK. Seine Schilderungen lösen den von Marcel Junod geleiteten Hilfseinsatz aus.
Foto: IKRK Archiv

Gleichentags unterschreiben Vertreter der japanischen Regierung die Kapitulationsurkunde. Auf dem Schlachtschiff USS Missouri, das in der Sagami-Bucht südlich von Tokio ankert.

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Gegenstand historischer Debatten ist bis heute, welche Rolle «Little Boy» und «Fat Man» dabei gespielt haben – die Atombomben, die US-Bomber am 6. August 1945 über Hiroshima und drei Tage später über Nagasaki abgeworfen hatten.

Vermutlich machten die verheerenden Detonationen und die Kriegserklärung Russlands an Japan am 8. August 1945 den Japanern die Ausweglosigkeit ihrer Situation gleichermassen bewusst. Insgesamt führten die Angriffe in Hiroshima und Nagasaki zu über 200’000 Todesopfern. Schon am 15. August verkündete Kaiser Hirohito in einer Radioansprache das Niederlegen der Waffen.

Während also auch in Asien der Zweite Weltkrieg zu Ende geht, beginnt Marcel Junods nächste, vielleicht wichtigste Mission. Der Schweizer, der eigentlich in die Gegend gereist war, um alliierte Kriegsgefangene aufzuspüren und sich um deren Evakuierung zu kümmern, fasst einen Plan. Er will sich selbst ein Bild davon machen, was die neuartige Waffe in Hiroshima angerichtet hat. Also bittet er die US-Streitkräfte, mit zwölf Tonnen Hilfsmaterial in die betroffene Präfektur reisen zu dürfen.

Am 8. September steigt er an Bord einer Maschine des US-Militärs, die Mitarbeiter des Manhattan-Projekts nach Hiroshima bringen soll. Die Amerikaner interessieren sich für die Wucht der Atombombe, der IKRK-Delegierte Junod will möglichst schnell zu deren Opfern.

Als sich das Flugzeug im Landeanflug auf Hiroshima befindet, blickt Junod aus dem Fenster auf eine zerstörte Stadt. «Nichts war übrig geblieben», wird er später in sein Tagebuch schreiben, «nicht die geringste Spur von Häusern.» Dort, wo am 6. August 1945 die erste Atombombe explodiert ist, macht Junod einen «weissen Fleck» aus, «zwei Kilometer im Durchmesser und glatt wie die Innenseite einer Hand» – «ein überwältigender Anblick».

«Ein weisser Fleck»: die nach dem Atombombenabwurf zerstörte Stadt Hiroshima
Foto: Satsuo Nakata/IKRK Archiv

Dass es dem jungen Arzt die Sprache verschlägt, will etwas heissen. Geboren 1904 in Neuenburg, war Marcel Junod als Angestellter des IKRK schon zuvor in zahlreichen Konfliktgebieten unterwegs gewesen – oft riskierte er dabei sein Leben.

Im Abessinienkrieg wurde er Zeuge von Giftgasangriffen durch italienische Streitkräfte, im Spanischen Bürgerkrieg war er bei der Aushandlung von Gefangenenaustauschen beteiligt, und nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs setzte er sich in Europa unter anderem für die notleidende Zivilbevölkerung ein. Das Grauen, das sich Junod aber in Japan offenbart, hat selbst für den erfahrenen IKRK-Delegierten und Chirurgen eine ganz neue, bislang unvorstellbare Dimension.

Eine verlassene und tote Stadt

Am frühen Morgen des 9. September 1945 macht sich Marcel Junod von der Insel Miyajima, wo ihn die Amerikaner untergebracht haben, auf den Weg nach Hiroshima. Sechs Kilometer von der Abwurfstelle entfernt, zeigen sich ihm erste Spuren der Detonation: nackte Dächer, deren Ziegel die Bombe hat verpuffen lassen. Fünf Kilometer entfernt, sieht Junod Häuser, die «wie Pappe plattgedrückt sind», vier Kilometer weiter nur noch «Ansammlungen von Balken und Brettern».

Noch näher am Explosionszentrum ist dann alles «wie von einer übernatürlichen Kraft zertrümmert, weggeblasen und weggespült». Junod sieht Strommasten aus Eisenträgern, die verbogen und geknickt auf dem Boden herumliegen, ausgebrannte Autowracks und am Ufer aufgeplatzte Fische. In seinem ausführlichen Bericht hält er später fest: «Die Stadt ist verlassen und tot.»

Hiroshima nach dem 6. August 1945: Das Gebäude mit der zerstörten Kuppel im Hintergrund ist heute ein Friedensdenkmal.
Foto: Getty Images

In den behelfsmässig eingerichteten Spitälern, die er in diesen Tagen aufsucht, mangelt es an allem. Viele befinden sich in den Ruinen zerstörter Häuser. In einer halb abgerissenen Schule fällt Regen durchs löchrige Dach in die Krankenzimmer.

Die medizinische Versorgung, schreibt Junod, sei rudimentär: «Verbände werden mit Sacktuch gemacht, auf den Wunden der Verletzten sitzen Fliegen. Alles ist unglaublich schmutzig.» Viele Patienten würden unter Blutungen leiden, eine der Spätfolgen radioaktiver Strahlung. «Sie benötigen Bluttransfusionen, aber es gibt keine Spender und keine Ärzte, die sie verabreichen.»

70’000 bis 80’000 Menschen waren sofort tot. Die Verletzten wurden in behelfsmässigen Krankenzimmern untergebracht.
Foto: IKRK Archiv

Marcel Junod macht sich an die Arbeit. Im Rotkreuzkrankenhaus in Hiroshima, das als einziges Spital wie durch ein Wunder fast unversehrt geblieben ist, führt er als erster ausländischer Arzt Behandlungen durch. Er koordiniert die humanitäre Hilfe, überwacht die Verteilung der Hilfsmaterialien, unterstützt den lokalen medizinischen Staff.

Sein Einsatz rettet nicht nur Tausenden das Leben. Die Augenzeugenberichte des neutralen Arztes und die Fotografien, die er ans IKRK weiterleitet, rütteln ebenso die Weltgemeinschaft auf. In seinem Text «The Hiroshima Disaster», den das IKRK erst 1982 publiziert, schreibt Junod: «Wer die dramatische Wirkung dieser neuen Waffe miterlebt hat, kann keinen Zweifel daran haben, dass die Welt heute vor ihrer Vernichtung steht.»

Das Dokument endet mit einem eindringlichen Appell an die Mächtigen dieser Welt: «Verbieten Sie den Einsatz der Atombombe als Kriegswaffe, wenn der Krieg selbst nicht verhindert werden kann.»

Rotkreuzspital in Hiroshima: 69 von 180 Mitarbeitenden überlebten den Atombombenangriff nicht.
Foto: NHK World Japan

Heute, 80 Jahre später, ist die Welt nicht sicherer geworden. Im Gegenteil: Derzeit verfügen neun Staaten über Atomwaffenarsenale: die USA, China, Russland, Frankreich, Grossbritannien, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea. Der Iran arbeitet an der Entwicklung einer Atombombe, Südkorea denkt über ein eigenes Programm nach.

Das rhetorische Säbelrasseln wird lauter: Aggressor Russland drohte der Ukraine schon mit Kernwaffen, in Israel schliessen Ultrarechte einen Atombombeneinsatz über dem Gazastreifen nicht aus. Von Abrüstung redet in kriegerischen Zeiten kaum noch jemand – auch nicht in der Schweiz.

Was hat uns Marcel Junod also heute noch zu sagen? Eine ganze Menge, wenn es nach Florian Eblenkamp geht, der in Genf für die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) arbeitet, ein Bündnis von NGOs, das 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.

Dass Marcel Junod die Auswirkungen der Atombombe mit eigenen Augen gesehen habe, mache sein Vermächtnis umso wertvoller für die Nachwelt, sagt Eblenkamp. In Hiroshima reichte eine Bombe, damit alles zu Staub zerfällt. Weltweit existieren derzeit über 10’000 Atomwaffen, die innerhalb kürzester Zeit einsatzbereit sind.

Wenn es heute zum Atomkrieg käme, geriete die Situation schnell ausser Kontrolle, sagt Eblenkamp. «Strahlung macht nicht an Grenzen halt.» Eskalierte etwa der seit Jahren schwelende Konflikt zwischen Pakistan und Indien zu einem nuklearen Schlagabtausch, wären die Folgen katastrophal. Landwirtschaft wäre in grossen Teilen Südostasiens nicht mehr möglich, zwei Milliarden Menschen wären von Hunger betroffen.

Potenzial, den Planeten zu zerstören

Man spreche heute zu abstrakt über die Atombombe, sagt Eblenkamp. Als wäre sie ein politisches Werkzeug in Konflikten – statt eine Massenvernichtungswaffe mit Potenzial, den Planeten zu zerstören. «Deshalb braucht es dringend eine Gegenbewegung.»

Dass gerade die Schweiz, Hüterin des humanitären Völkerrechts und Depositarstaat der Genfer Konventionen, den Uno-Atomwaffenverbotsvertrag bis heute noch nicht unterschrieben hat, sei schlicht nicht nachvollziehbar.

Derzeit läuft eine Volksinitiative, die den Bundesrat dazu verpflichten soll. Die Sammelfrist dauert bis Januar 2026, noch fehlen rund 20’000 Unterschriften. «Marcel Junod wäre der Erste gewesen, der unterzeichnet hätte», sagt Florian Eblenkamp.

Marcel Junod als junger Assistenzarzt im Elsass
Foto: Benoît Junod/Wikipedia

Am 16. Juni 1961 stirbt Marcel Junod im Dienst. Als Anästhesist erleidet er während einer Operation einen schweren Herzinfarkt. Am IKRK-Sitz in Genf treffen aus aller Welt über 3000 Beileidsbekundungen ein.

18 Jahre später wird im Friedenspark in Hiroshima eine Gedenkstätte zu Ehren des Schweizer Arztes errichtet. Seit 1990 findet dort jedes Jahr an Junods Todestag eine Gedenkfeier statt. In Genf, Junods Heimatstadt, wurde 2005 ein ähnliches Denkmal enthüllt – 60 Jahre nach dessen Einsatz in Hiroshima.

Im Friedenspark von Hiroshima steht seit 1979 ein Denkmal für Marcel Junod.
Foto: IKRK Archiv

Bis heute gelten die Schriften Junods als Pflichtlektüre für sämtliche IKRK-Mitarbeitenden. In Japan wurde das Leben des berühmten Helfers sogar in einem preisgekrönten Anime («Junod») verewigt.

Als Einzelkämpfer sah sich Marcel Junod selbst indes nie. Lieber appellierte er an alle Menschen, selbst zu Helden zu werden: «Viele rufen um Hilfe. Sie rufen dich!»

In seinem Buch «Le troisième combattant» (1947) schreibt er, dass die Gräuel, die er gesehen habe, nicht der Vergangenheit angehörten. All die Verwundeten seien keine Figuren aus einem Albtraum, sondern Menschen in unserer Nähe, die dringend Hilfe benötigten – heute und morgen.

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