Boris Johnson habe sich live im TV, vor Millionen von Zuschauern, mit Corona infizieren lassen wollen. Diese und weitere brisante Aussagen soll Medienberichten zufolge Johnsons Ex-Berater, Dominic Cummings (49), in Kürze verkünden.
Am heutigen Mittwoch wird er von zwei Parlamentsausschüssen zur Krisenpolitik der Regierung zu Beginn der Corona-Pandemie befragt. Bisher deutet alles darauf hin, dass Cummings, der einst als mächtigster Mann der Downing Street galt, die stundenlange Aussage in London zum Anlass für eine Generalabrechnung mit seinem einstigen Chef und dessen Ministern nutzen will.
Lieber Tote statt Lockdown
Die Zeitung «Daily Mail» berichtete, Cummings werde Johnson persönlich für den Tod Tausender Corona-Patienten verantwortlich machen. Der Premier und seine Regierung hätten zu spät und ohne klare Linie auf die Pandemie reagiert.
Lieber nehme er in Kauf, dass sich «die Leichen zu Tausenden auftürmen», als einen weiteren Lockdown durchzusetzen, soll der Premier gesagt haben. Auch soll Johnson fünf Corona-Sitzungen des Nationalen Sicherheitsrats (Cobra) zur Pandemie verpasst haben – angeblich, weil er an einer Biografie über den legendären Dichter William Shakespeare arbeitete.
Auch soll Johnson – bevor er sich selbst mit dem Virus angesteckt hatte – von «Kung Flu» gesprochen haben. Genauso nannte auch Donald Trump die Krankheit. Die Absicht, sich im Fernsehen damit infizieren zu lassen, habe der Premier geäussert, um «den Leuten zu zeigen, dass es nichts ist, wovor man Angst haben müsse», so Cummings. Ebenfalls soll Johnson gesagt haben, dass Covid-19 «nur 80-Jährige tötet».
Persönlicher Rachefeldzug?
In zahlreichen Twitter-Nachrichten legt Cummings seit gut einer Woche Rechenschaft ab über seine damaligen Handlungen und wirft der Regierung Untätigkeit vor. Zuletzt hatte er sich wiederholt kritisch über den Umgang von Johnsons Kabinett mit der Pandemie geäussert. Allerdings weisen politische Beobachter in London darauf hin, dass ohne Cummings, der als «graue Eminenz» der Downing Street galt, kaum eine Entscheidung von Tragweite getroffen wurde. Auch deshalb wirkt es wie ein Rachefeldzug: Denn Cummings hatte seinen Berater-Posten im vergangenen November im Streit verlassen.
Kurz vor der Aussage von Cummings hat ein Kabinettsmitglied dessen Vorwürfe zurückgewiesen. Verkehrsminister Grant Shapps sagte am Mittwoch im Sender Sky News, die Befragung von Dominic Cummings im Parlament sei ein «Nebenschauplatz». Johnsons Ex-Vertrauter verfolge eine persönliche Agenda. Der Minister legte nahe, dass Cummings, sich revanchieren wolle. «Was seine Motive sind, überlasse ich anderen.»
Befragung dürfte mehrere Stunden dauern
Um Cummings kümmern sich am Mittwoch die Unterhaus-Ausschüsse für Gesundheit und Wissenschaft. Erwartet wird, dass sich die Befragung letztlich auf vier Kernbereiche konzentriert: die Vorbereitung der Regierung sowie den erste Lockdown, das als ineffektiv kritisierte milliardenschwere Test- und Nachverfolgungsprogramm, die Impfkampagne und den zweite Lockdown im Herbst.
Wie der Sender Sky News berichtete, dürfte die Befragung mehrere Stunden dauern – und sich vermutlich mit der sogenannten Prime Minister's Question Time überschneiden. Dort stellt sich Johnson traditionell regelmässig am Mittwoch den Fragen des Parlaments. Es ist davon auszugehen, dass Oppositionsführer Keir Starmer und andere Labour-Abgeordnete die Chance nutzen werden, um Johnson sofort mit Aussagen von Cummings zu konfrontieren.
Über 150'000 Corona-Tote
Mit mehr als 150'000 Menschen, die an oder mit Covid gestorben sind, ist Grossbritannien eines der von der Pandemie am schwersten betroffenen Länder Europas. Die Regierung steht in der Kritik, besonders mit der Verhängung des ersten Lockdowns zu lange gezögert zu haben.
Cummings zufolge lag das auch an der zunächst verfolgten Strategie, ähnlich wie in Schweden die Ausbreitung des Virus nicht gänzlich zu unterdrücken, sondern auf eine allmählich einsetzende Immunität in der Bevölkerung zu hoffen. Beteuerungen von Regierungsmitgliedern, das sei nicht der Fall gewesen, bezeichnete er als «Bullshit». Arbeitsministerin Thérèse Coffey widersprach ihm erst am Dienstag energisch.
Cummings war in weiten Teilen der Bevölkerung regelrecht verhasst. Doch als er Hunderte Kilometer zu seiner Familie nach Durham fuhr und damit offenkundig die Corona-Regeln brach, stellten sich Johnson und weitere Regierungsmitglieder hinter den Berater. Cummings selbst gab im Rosengarten der Downing Street eine skurrile Pressekonferenz und verteidigte sich. Nun, fast auf den Tag genau ein Jahr später, steht er wieder im Rampenlicht. (man/SDA)