Kaum ein qualmender Fabrikschlot stört in diesen Tagen die Silhouette der 21-Millionen-Einwohner-Metropole Peking. Statt der üblichen dichten Smogdecke zeigt sich manchmal sogar die Sonne. Die Luft ist atembar. So lebenswert hat die chinesische Hauptstadt die 2300 Delegierten der Kommunistischen Partei empfangen, die in den kommenden Tagen über den neuen politischen Fünfjahresplan der Volksrepublik befinden sollen.
Wobei der Eindruck von Sauberkeit genauso trügerisch ist wie die Annahme, der 19. Parteikongress der Kommunistischen Partei könnte anderes beschliessen als die von der Parteispitze längst entschiedenen Ziele.
Tiger, Fliegen und Unbequeme
Staatschef und Partei-Generalsekretär Xi Jinping wird für weitere fünf Jahre in seinem Amt bestätigt werden. Seine Vertrauten werden in frei werdende Positionen im Zentralkomitee und dem Politbüro gewählt werden. Auch der von Xi begonnene Kampf gegen die Korruption wird fortgesetzt: Von einer Million bestechlicher «Tiger und Fliegen» hat er die Partei in den letzten Jahren gesäubert.
Manch einer von ihnen dürfte weniger korrupt als vielmehr für Xi Jinpings Pläne unbequem gewesen sein. Aber darüber wird der Kongress – natürlich – nicht debattieren. Am Ende des Parteikongresses wird Xi Jinping so viel Macht haben wie vor ihm nur Revolutionsführer Mao Tse-tung und der grosse Wirtschaftsreformer Deng Xiaoping.
Auf zu neuen Ufern, um das Alte zu bewahren
Wohin die chinesische Reise auch über seine Amtszeit hinausgehen soll – davon hat der studierte Chemie-Ingenieur Xi sehr genaue Vorstellungen. Sein Marschbefehl an die Partei: Angesichts «komplizierter Veränderungen» in der Welt müssen «alle Genossen höchst wachsam gegenüber den Gefahren sein».
Xi weiss: Der wachsende Wohlstand und damit die Zufriedenheit der chinesischen Gesellschaft hängen nicht zuletzt von der globalen Entwicklung ab. Jedes zweite der etwa 90 Millionen Parteimitglieder trat seit Deng Xiaopings Reformen vor 30 Jahren bei: Solange China die Werkbank der Welt bleibt, kann die Partei die besten Jobs garantieren, Karrieren und sogar die Gründung privater Unternehmen ermöglichen.
Aber: Nur solange dieses Versprechen eingelöst wird, sind die Chinesen auch bereit, sich dem autoritären Diktat der Partei zu unterwerfen.
Die glitzernde Oberfläche trügt
An der Oberfläche boomt und glitzert die Volksrepublik. Die Skylines wachsen in den Himmel. Die Restaurants sind voll, die Bars laut und pulsierend, die Discos jeden Abend überfüllt.
Gleichzeitig aber ist kein anderes Land der Welt so ruchlos, wenn es um soziale Kontrolle geht. Kritische Internetseiten, aber auch viele internationale Medienseiten, Facebook, Twitter und Co. sind gesperrt. Für Xi Jinpings «Sozialismus chinesischer Prägung für eine neue Ära» ist das aber noch nicht genug.
Schon bald sollen private E-Mails und Social-Media-Postings, aber auch Schul- und Universitätsnoten, Kaufgewohnheiten im Internet und vieles mehr zentral erfasst und benotet werden: öffentlich einsehbare Pluspunkte für die Angepassten. Punktabzüge für «Abweichler» – mit allen dazugehörigen sozialen und beruflichen Konsequenzen.
An Xis Wesen soll die Welt «genesen»?
Xi Jinpings China soll aber auch jenseits seiner Grenzen wachsen. Das Aufrüstungsprogramm der Streitkräfte ist beeindruckend. Vor allem die Marine soll den USA und ihren Verbündeten in der Region Paroli bieten und die Territorialansprüche Beijings absichern.
Doch mehr noch setzt Xi auf wachsenden chinesischen Einfluss durch wachsenden Handel. Überall in Europa sind seine Unternehmens- und damit Technologie-Einkäufer unterwegs.
Eine «Neue Seidenstrasse» soll das Reich der Mitte mit dem Westen Europas verbinden. Entlang der von Beijing finanzierten Gleisstrecke sollen an strategisch wichtigen Orten chinesische Handelsposten entstehen. «Die Öffnung bringt Fortschritt», hat Xi den Kongressdelegierten seine Doktrin erklärt. «Bei Abschottung wird man zurückgelassen.»
China will das Vakuum füllen
Mit diesem Satz hat der Präsident auch seine Vision der künftigen Rolle Chinas in der Weltpolitik beschrieben. US-Präsident Donald Trump will die Vereinigten Staaten in die Isolation führen. Russlands Präsident Putin ist ein wirtschaftspolitischer «Versager». Europa streitet über seine Zukunft. Dieses mehrpolige Vakuum will die Volksrepublik füllen.
Undemokratisch, dafür aber ideologisch flexibel und pragmatisch ergebnisorientiert: Das chinesische Erfolgsrezept hat seine Bewunderer längst nicht mehr nur in den Schwellenländern. Auch der Ungar Viktor Orban und andere osteuropäische Staatsführer haben Gefallen an Xi Jinpings Vorstellung gefunden, dass «der Führer» immer am besten weiss, was für das Volk gut ist.
Das Gift des chinesischen Erfolgs wirkt. Über die Entwicklung eines Gegengifts wird viel zu wenig diskutiert.