Silvano, was bedeutet Ihnen der 8. Dezember heute?
Silvano Beltrametti: Es ist immer noch ein sehr spezieller Tag. Eine Art zweiter Geburtstag. Am Tag selber gibt es sicher auch Momente, die schmerzen. Wenn man an die schwierigen Zeiten denkt, die hinter einem liegen. Schaue ich jetzt zurück, kann ich auch ein wenig stolz sein, mit dem, was seither passiert ist. Deshalb sehe ich den 8. Dezember heute mehr als zweiten Geburtstag. Zwei, drei Jahre nach dem Unfall war an diesem Tag der Schmerz grösser.
Sie waren damals 22. Können Sie sich an den Unglückstag erinnern?
Der ganze Tag ist immer noch im Kopf drin. Es war ein Kampf ums Überleben! Ich hatte sehr viel Blut in der Lunge. Konnte kaum mehr atmen. Hatte schlimme Rückenschmerzen. Es war brutal, weil ich nicht wusste, ob ich das überlebe.
Ein Kollege von mir hat vor wenigen Wochen einen Schlaganfall überlebt. Er sagte: «Du spürst, wenn es um die Wurst geht.» Bei Ihnen ging es auch um die Wurst. Wie spürt man das?
Ich spürte, dass ich vor der Entscheidung stand, die Augen zu schliessen und einzuschlafen, und der ganze Schmerz geht weg – oder den schwereren Weg zu gehen. Ich habe wie zwei Luftblasen gesehen. Die ganze Familie, das ganze Umfeld, daran klammert man sich fest. Man will nicht loslassen. Es wäre einfacher gewesen hinüberzuschweifen, zu sagen, ich kann nicht mehr, ich schliesse jetzt die Augen. Und wahrscheinlich hätte dann irgendwann mein Herz aufgehört zu schlagen. Aber ich sah auch den anderen Weg. Nein, ich kämpfe, ich will da bleiben, ich will jetzt noch nicht gehen.
Erinnern Sie sich an Ihre ersten Gedanken, als Sie im Spital erwachten?
Ich war erst rund 90 Minuten nach dem Unfall im Spital. Mir ist der Moment präsent, wie ich in die Röhre geschoben wurde. Für die ersten Röntgenbilder. Ich erinnerte mich damals an Bad Ragaz. Da musste ich wenige Wochen zuvor auch schon in die Röhre. Ich war so super auf die neue Saison vorbereitet, sah das Ziel Olympia vor mir. Doch plötzlich hatte ich Knieschmerzen. Ich hoffte nur, dass das Knie nicht kaputt ist. Und dann in Grenoble war ich wieder in der Röhre und wusste eigentlich schon, dass es so etwas sein wird wie eine Lähmung. Ich habe unten überhaupt nichts mehr gespürt.
Und dann die schlimme Diagnose.
Das sind schon brutale Momente. Zwei Stunden nach dem Unfall kam der Teamarzt und sagte: «Silvano, du bist gelähmt, du wirst das Leben lang im Rollstuhl sitzen.» In diesem Moment schwimmt dir alles davon. Alle Visionen, alle Ziele. Du bist total leer. Völlig am Boden. Überlegst, was soll das, was heisst das jetzt? Wie ein zentnerschwerer Stein, der auf dich hereinschlägt.
Sind Sie heute glücklich?
Ja, ich bin sehr glücklich und zufrieden. Ich bin mit beiden Beinen fest im Leben drin. Habe eine super Frau. Ein super Umfeld. Eine gute Herausforderung mit dem Familienbetrieb im Hotel. Klar gibt es bessere und schlechtere Tage. Aber bei mir ist das grosse Loch nie gekommen.
Ich hatte immer wieder Aufgaben. Es gab schon Zeiten, in denen man schlechter in Form war, mehr zu kämpfen hatte mit dem Schicksal. Aber dafür kann man dann auch die schönen Momente intensiver geniessen.
Viele Skirennfahrer träumen noch Jahrzehnte nach dem Rücktritt von Skirennen.
Das habe ich lange nicht mehr. Gleich nach dem Unfall habe ich mich im Traum schon mal als Skirennfahrer gesehen. Aber in den letzten zwei, drei Jahren gab es das nicht mehr. Jetzt träume ich eher, wie ich mit dem Monoskibob über die Piste fahre und dann in eine Gletscherspalte falle ... So ganze normale Träume eben ... (lacht) Ja.
Und als Fussgänger?
Es gibt beides: Träume im Rollstuhl, aber auch Träume, in denen ich mich als Fussgänger ertappe.
Was stört Sie am meisten am neuen Leben?
Es sind einzelne Hindernisse, die es gibt. Klar, ich fahre wieder Ski und Handbike, habe meine berufliche Herausforderung. Aber im Alltag drin gibt es immer wieder Momente, in denen du zu dir sagst: Ich würde eben schon gerne ... Oder, was die Hobbys betrifft. Es ist zwar wunderschön, mit den Freunden über Pisten zu fahren, die gut präpariert sind. Aber ich würde schon auch gerne wieder mal im Pulverschnee an einem tief verschneiten Wintertag den Hang runterfahren. Doch das ist nicht mehr möglich.
Sie hätten mit Ihrer Frau Edwina gerne Kinder gehabt. Leider hat es nicht geklappt. War das ein harter Schicksalsschlag?
Es ist das, was uns das Leben gibt. Man kann nicht immer alles haben, was man sich wünscht. Vielleicht war es der richtige Entscheid – gesteuert von oben. Wir sind ja auch beide beruflich so stark engagiert, dass es mit Kindern im Alltag sicher immer schwieriger geworden wäre.
Sie führen mit Ihrer Frau das Hotel Tgantieni in der Lenzerheide. Als Sportler waren Sie hart mit sich selbst. Sind Sie auch ein harter Chef?
Ja, sicher, ich muss mich manchmal bremsen. Ich habe von Jung auf gelernt zu arbeiten, meine Energie zu Hundert Prozent für ein Projekt einzusetzen. Wenn mir als Chef etwas nicht passt, dann zitiere ich einen Mitarbeiter schon mal ins Büro und sage ihm deutlich, was ich anders haben möchte. Ich bin sicher ein harter Chef, aber auch ein guter. In dem Sinn, dass ich mich beim Personal erkenntlich zeigen kann, wenn es gut gearbeitet hat, wenn wir im Team weiterkommen.
Die Medizin macht unglaubliche Fortschritte. Man liest von gelähmten Mäusen, die wieder gehen können. Träumen Sie davon, in zwanzig Jahren wieder laufen zu können?
Nein, damit rechne ich nicht mehr. Das war kurz nach dem Unfall ein Thema. Da habe ich die Ärzte gefragt, ob die Forschung mal so weit sein wird, dass ich wieder gehen kann. Da konnte ich eben noch nicht in allen Momenten loslassen. Heute ist das weit weg. Es funktioniert ja, so wie es ist. Ich mache das, was geht.
Auch wieder einmal eine Reise nach Val d’Isère?
Ich habe mit dem Ort abgeschlossen. Es war wie eine Trennung, die nötig war. Ich war rund ein Jahr nach dem Unfall da, musste mich mit Val d’Isère aussprechen und habe Frieden geschlossen. Aber es wird keine Freundschaft mehr zwischen uns geben. Jeder geht seinen Weg. Val d’Isère wird mich nie mehr sehen.
Leider durfte er nur zwei Weltcup-Podestplätze feiern. Nach seinem Unfall liess sich der gelernte Zimmermann zum technischen Kaufmann umschulen. Er ist Mitgründer des Online-Portals Skionline.ch, führt heute mit seiner Frau das Hotel Tgantieni in Lenzerheide und ist Vize-Präsident des Vereins Weltcup Lenzerheide.
Leider durfte er nur zwei Weltcup-Podestplätze feiern. Nach seinem Unfall liess sich der gelernte Zimmermann zum technischen Kaufmann umschulen. Er ist Mitgründer des Online-Portals Skionline.ch, führt heute mit seiner Frau das Hotel Tgantieni in Lenzerheide und ist Vize-Präsident des Vereins Weltcup Lenzerheide.