Herr Thurnheer, Sie treten nach der WM in Brasilien von der grossen Fussballbühne ab. Kommt Wehmut auf?
Beni Thurnheer: Nicht gross. Ich glaube, der Zeitpunkt zum Aufhören ist genau der richtige. Kommentieren wird immer technischer und ich habe meinen Wissensvorsprung durch das Internet eingebüsst. Heute gibt es Liveticker, die ersetzen praktisch die Vorbereitung. Der Job hat sich von meinen Stärken weg verändert. Deshalb werde ich nicht in Tränen ausbrechen, wenn mein letztes Spiel abgepfiffen wird.
Wie blicken Sie auf Ihre Karriere zurück?
Extrem dankbar. Als das Fernsehen gross wurde in den Siebzigerjahren, fing ich gerade an. Nun nimmt die Bedeutung des TVs ab und ich höre auf. Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Ich hatte immer sehr viel Glück im Leben.
Bereuen Sie nichts?
Nein. Ich habe in meiner Karriere viel mehr erreicht, als man in diesem Beruf normalerweise erreichen kann.
Welche Momente bleiben für immer in Ihrer Erinnerung?
Der 4:1-Sieg der Schweiz gegen Rumänien bei der WM 1994 in den USA war das Grösste. Da haben wir unsere fussballerische Brillanz gezeigt. Einschneidend war das WM-Barrage-Rückspiel in Istanbul 2005, das ja dann mit dieser üblen Prügelei endete. Dort litt ich während der Partie extrem mit, es war mir beim Kommentieren körperlich unwohl, ich dachte: Wir müssen unbedingt dabei sein bei der WM in Deutschland. Nie mehr vergessen werde ich auch die Heysel-Tragödie wegen einer Massenpanik im Stadion, 1985 in Brüssel, mit 39 Toten. Das war das Schlimmste. Bei einem solchen Drama beginnt man, den Sport zu hinterfragen.
Sie verschwinden mit dem Ende der WM nicht ganz vom TV, werden noch Kunstturnen kommentieren und von der Super League berichten. Keine Lust auf Ruhestand?
Ich muss etwas machen, sonst wirds mir langweilig. Theoretisch könnte ich bis 2035 weitermachen (lacht). Aber zum ersten Mal in meinem Leben freue ich mich nicht nur auf die WM, sondern auch auf die Zeit danach. Da habe ich so viel frei wie noch nie. Und das werde ich geniessen.
Wissen Sie schon, was Sie mit der freien Zeit anstellen werden?
Ich habe eine Beziehung – und bin froh, für Kathrin künftig mehr Zeit zu haben. Wir sehen uns im Moment extrem selten, es ist an der unteren Grenze für eine Beziehung. Da ich nicht nochmals eine Beziehung gefährden möchte, will ich die gewonnene Zeit besser für meine Partnerin verwenden. Ausserdem will ich endlich all meine Fotos der letzten Jahrzehnte ordnen. Und vermehrt Sport treiben, statt nur darüber zu berichten.
Sie fangen aber nicht plötzlich an, Marathon zu laufen?
Nein, das würden die Gelenke bei meinem Übergewicht nicht zulassen. Aber ich habe eine fixe Mountainbike-Route rund um Seuzach, die versuche ich mehrmals pro Woche zu machen. Es sind rund 15 Kilometer, die brauchen Zeit – und manchmal auch extrem Überwindung. Ich bin aber zuversichtlich: Mit meiner Pensionierung werde ich fitter.
Fürchten Sie sich davor, alt und gebrechlich zu werden?
Ich habe mich schon sehr lange mit dem Älterwerden auseinandergesetzt. Doch ich blicke nicht voller Sorge voraus. Mit einer Krankheit beschäftige ich mich erst, wenn sie ausbrechen sollte. Meine Gesundheit kann ich im Gegensatz zu meiner Pensionierung, die ich nun gleitend mache, leider nicht planen.
Auf dem Papier pensioniert werden Sie in Brasilien und feiern zwei Tage vor dem WM-Final den 65. Geburtstag. Schon was vor?
Ich weiss nur, dass ich an diesem Tag in Rio sein werde und meine Kollegen sicher zum Essen einlade. Ich hoffe einfach, das Ganze endet nicht wie an meinem 45. Geburtstag bei der WM 1994 in den USA! Da haben mich meine Gspänli mit einer Party in einer Cowboybar überrascht und so getan, als würde ich fünfzig. Auf der Torte, auf den Ballonen, überall stand die Zahl 50. Die haben mich einen ganzen Abend lang verarscht! Aber diesen Geburtstag vergesse ich nie mehr.
Sie könnten die Party in Rio ja grad mit Ihrer ersten AHV bezahlen.
Nein, das Geld ist bereits verplant (lacht). Die drei Brüder meiner Partnerin Kathrin haben bereits angekündigt, dass es Tradition sei, mit der 1. AHV die ganze Verwandtschaft einzuladen. Und da muss ich Folge leisten!
Wieso begleitet Sie Kathrin nicht nach Brasilien?
Wir hätten nichts voneinander. Ich habe fast jeden Tag einen Match, muss zwischen den Austragungsorten hin- und herreisen. Zudem arbeitet sie ja auch, das Schuljahr dauert noch ein paar Wochen. Aber sie freut sich natürlich nicht, dass ich so lange weg bin. Deshalb machen wir danach gemeinsam Ferien. Zu Hause in meinem Garten.
Schmieden Sie keine Reisepläne? Kathrin teilt Ihre grosse Reiseleidenschaft.
Doch, aber erst später. Ich will unbedingt wieder mal nach Australien. Besonders Sydney liebe ich über alles. Die Leute in dieser Stadt sind genau auf meiner Wellenlänge, sehr relaxt. Und es gibt jede Menge gute Fischbeizli. Wir gehen einfach gerne auswärts essen.
Selbst an den Herd stellen Sie sich nicht so gern?
Ich kann leider nicht kochen, bringe gerade mal 4-Minuten- oder Spiegeleier zustande. Oder Stocki aus dem Päckli. Zum Glück ist meine Frau darin begabter.
Sie nennen Kathrin Ihre Frau?
Nun ja, Lebensabschnittspartnerin finde ich doof. Freundin passt nicht zu einem 60-Jährigen. Also nenne ich Kathrin einfach meine Frau. Es wäre extrem schön, gemeinsam mit ihr richtig alt zu werden. Ich träume davon, 100 Jahre alt zu werden und noch alles zu checken. Ich habe eine solche Freude am Leben, ich will es so lange wie möglich auskosten.
Wann kommt die Biografie von «Beni National»?
Nachdem ich schon zwei biografische Bücher verfasst habe, weiss ich nicht, ob das Interesse der Leser noch da wäre. Mein erstes schaffte es auf Platz 2 der Bestseller-Liste, das zweite nur noch auf Rang 9. Aber ich träume davon, ein Buch über meine Reisen zu schreiben. So ähnlich wie «Following the Equator» von Mark Twain. Wenn ich ein solches Werk vollbringen könnte, wäre ich echt glücklich.
Sie gelten als Strahlemann, wirken stets gut gelaunt. Wann weinen Sie auch mal?
Regelmässig im Kino – furchtbar! Im normalen Leben kann ich mich sehr gut beherrschen, aber bei Filmen übermannt es mich. Beispielsweise bei «Philomena», den ich kürzlich sah. Der hat mich extrem berührt.
Haben Sie eigentlich den Sinn des Lebens gefunden?
Ich habe eine Philosophie: Ziel eines jeden Menschen sollte es sein, seine Mitmenschen weiterzubringen. Und sei es nur, indem man seiner alten Nachbarin bei den Einkäufen hilft oder einem Fremden ohne Vorurteile begegnet. Lange Zeit glaubte ich tatsächlich, das sei so. Leider wurde ich durch die unzähligen Gräueltaten, die täglich auf der Welt geschehen, desillusioniert. Doch das Gute oder Schlechte des Menschen ist ein never ending Thema. Und sehr weit weg von: Wer wird Weltmeister?
Was ist denn Ihr Tipp?
Der Titel geht sicher nach Südamerika. Aber wie alle auf Brasilien zu tippen, ist mir zu langweilig. Darum sage ich Argentinien. Ich bin überzeugt: Es wird die WM von Lionel Messi. Wenn er den Pokal nach Hause holt, ist er endgültig der beste Fussballer aller Zeiten.
Und wie weit kommt die Schweiz?
Wir schaffen es über die Vorrunde hinaus. Mit Glück, also wenn wir nicht gleich auf Argentinien im Achtelfinal treffen, würde sogar das Viertelfinal drinliegen. Ganz heimlich hege ich aber einen übermütigen Wunsch: Dass mein Jahrgänger, Nati-Trainer Ottmar Hitzfeld, und ich gleichzeitig abtreten könnten. Und das würde bedeuten, dass die Schweiz in den Final kommt. Ein solches Fussballmärchen wäre das Schönste zum Schluss.