Der Economiesuisse-Präsident zur Mindestlohn-Initiative
Kann eine Familie mit 4000 Fr. leben, Herr Karrer?

Der oberste Wirtschaftschef sagt, für Kleinverdiener hätten wir einen ausgebauten Sozialstaat. Bei einem Ja zum Mindestlohn-Anliegen drohten ein Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit und mehr Zuwanderung.
Publiziert: 05.04.2014 um 23:11 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2018 um 22:35 Uhr
Interview: Marcel Odermatt und Nico Menzato; Foto: Philippe Rossier

SonntagsBlick: Herr Karrer, Sie sind Grossverdiener. Können Sie sich vorstellen, mit einem Einkommen von 4000 Franken auszukommen?
Heinz Karrer:
Ich habe bis im Alter von 27 Jahren deutlich weniger als 4000 Franken verdient. In den 80er-Jahren bin ich Taxi gefahren – zu einem Stundenlohn von 13Franken. Nach der kaufmännischen Lehre bei der SBG – der heutigen UBS – hatte ich einen Lohn von ­etwas über 2000 Franken pro Monat. Ich wohnte zuerst weiterhin bei meinen Eltern und dann in einer WG – zum Glück bezahlten meine Eltern die Krankenkassenprämien!

Man kann also sehr wohl mit weniger als 4000 Franken leben?
Es ist sicherlich für viele Menschen nicht einfach. Aber man muss differenzieren. Bei einem Berufseinsteiger, der bei den Eltern lebt, ist die Situation eine ganz andere als bei einem Familienvater. Oder ob jemand in der Stadt oder im Berggebiet wohnt. Oder ob es in der Familie Zweitverdiener gibt. Es ist darum falsch, für alle Regionen und Branchen einen gleichen Mindestlohn einzuführen.

Sie sagen also, wer wenig verdient, ist nicht unbedingt arm?
Der Tieflohnbericht des Seco zeigt: 87 Prozent der Tieflohnbezüger gehören heute nicht zu den Working Poor – zur Gruppe also, die trotz Arbeit nicht genügend zum Leben verdient.

Was sagt Ihnen diese Zahl?
Ein tiefer Lohn birgt ein massiv geringeres Armutsrisiko, als wenn jemand keine Arbeit hat. Auch sind viele weitere Faktoren entscheidend – wie der Wohnort, die Familiengrösse und ob man Alleinverdiener oder Zweitverdiener ist. Deshalb muss man jeweils die spezifische Situation betrachten.

Nehmen wir also die spezifische Situation eines Familienvaters, der zu wenig verdient, um seine Familie zu ernähren.
Solche Fälle gibt es leider. Von den rund 320000 Personen, die heute weniger als 22 Franken pro Stunde verdienen, sind rund 60000 Personen über eine längere Zeit betroffen.

Das heisst?
Die meisten Personen, die zu einem tieferen Lohn einsteigen, erleben eine Lohnentwicklung. Bei jungen Arbeitnehmern etwa steigt der Lohn mit zunehmender Erfahrung oft rasch an. Oder Personen, die vorübergehend in Tieflohnbranchen arbeiten, machen eine Weiterbildung und wechseln ihren Job und verdienen danach mehr.

Immerhin sind es 60000 Menschen, die längere Zeit sehr schlecht bezahlt sind. Das ist in der reichen Schweiz unwürdig!
Wir haben einen ausgebauten Sozialstaat, der in Fällen, bei denen der Lohn nicht zum Leben reicht, mit Ergänzungsleistungen einspringt.

Es ist doch nicht richtig, dass Steuerzahler Tieflohnbranchen subventionieren.
Jeder Arbeitnehmer soll grundsätzlich von seinem Lohn leben können. Insgesamt ist es aber wichtiger, dass wir eine tiefe Arbeitslosenquote, sprich möglichst alle eine Arbeit haben. Denn wenn viele Leute arbeiten können und so­zial integriert sind, ist das das beste Rezept gegen Armut. Wenn sie keinen Arbeitsplatz hätten, müssten die Steuerzahler für die ganze Sozialhilfe aufkommen.

Sie argumentieren, als hätten Sie gar kein Verständnis für die Forderung nach Mindestlöhnen.
Im Gegenteil – ich habe sogar grosses Verständnis. Spezifische Mindestlöhne nach Branchen und Regionen können sinnvoll sein. Heute ist rund die Hälfte aller Arbeitnehmer einem Gesamtarbeitsvertrag unterstellt. Dazu kommen viele firmen- und branchenspezifische Lösungen. Ich sehe keinen Grund, wieso diese Entwicklung nicht weitergehen sollte.

Also sind weitere GAVs die Lösung im Kampf gegen Tiefstlöhne?
Die gut funktionierende Sozialpartnerschaft ist ein Faktor, wieso der Schweizer Arbeitsmarkt so erfolgreich ist. Gerade die Tieflohnbezüger haben von dieser Entwicklung profitiert. So zeigen die Zahlen des Bundesamts für Statistik, dass die untersten zehn Prozent der Einkommen zwischen 1998 und 2009 mit durchschnittlich 1,4 Prozent stärker gestiegen sind als die mittleren Löhne.

Gewisse Branchen drücken massiv auf den Lohn. Deshalb empfinden viele die Forderung nach einem landesweiten Mindestlohn als sympathisch. Die Unternehmer sind also auch selber schuld!

Die Wirtschaft hat in den letzten Jahren zusammen mit den Arbeitnehmervertretern viel für die Tieflohnbezüger erreicht und weitere Anpassungen sind bereits geplant. Dies widerspiegelt sich auch in den gestiegenen Löhnen. In vielen Branchen liegt aber momentan nicht mehr drin. Beispielsweise in der Gastronomie oder in der Landwirtschaft. Dort verdienen Fami­lienmitglieder die auf dem Hof arbeiten heute im Schnitt 15 Franken pro Stunde. Müssten sie einem ungelernten Erntehelfer pro Stunde fast 50 Prozent mehr bezahlen als sich selbst, dann ist das für sie schlicht nicht finanzierbar.

Was passiert, sollten die Schweizer am 18. Mai ein Ja zur Mindestlohn-Initiative in die Urne legen?
Wenn Unternehmen oder gar Branchen in der Schweiz aufgrund der höheren Löhne nicht mehr konkurrenzfähig sind, kann es zu einem Stellenabbau und damit zu höherer Arbeitslosigkeit kommen. Die Leidtragenden wären genau jene, denen die Initiative helfen will: Berufseinsteiger, Wiedereinsteiger und weniger Qualifizierte.

Wie viele Stellen sind bedroht?
Jene Personen, die heute weniger als die in der Initiative geforderten 22 Franken pro Stunde verdienen, könnten von einem Arbeitsplatzverlust betroffen sein. Viele davon wären junge Berufseinsteiger. Ich befürchte deshalb, dass vor allem die Jugend­arbeitslosigkeit zunehmen würde.

Glauben Sie allen Ernstes, Unternehmer massenhaft Stellen streichen, wenn sie ein paar Hundert Franken mehr Lohn bezahlen müssen?
Die gesamte Lohnsumme stiege bei einem Ja um ein bis zwei Milliarden Franken. Das ist nicht nichts. Vor allem Firmen, die kaum finanziellen Spielraum haben, werden prüfen, Arbeitsstellen zu rationalisieren oder ins Ausland zu verlagern.

Auf Kosten hauptsächlich der Jungen?
Das könnte leider der Fall sein, ja. Zudem würde in dieser Altersgruppe der Anreiz sinken, eine Lehre zu absolvieren.

Wieso?
Weil auch ohne Ausbildung ein Lohn von 4000 Franken lockt.

Welche Branchen könnten am stärksten von Arbeitsplatzverlust betroffen sein?
Unter anderem die Gastronomie und die Hotellerie vor allem in Berg- und ländlichen Regionen, die Landwirtschaft und die Exportwirtschaft.

Was hätte ein Mindestlohn für weitere Konsequenzen?
Der Einwanderungsdruck würde beim weltweit höchsten Mindestlohn wohl weiter zunehmen.

Der Einwanderungsdruck ist bereits heute gross. 2014 werden wohl gegen 80000 Ausländer einwandern – trotz Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative.
Dass die Einwanderung hoch ist, ist ein Ausdruck einer Wirtschaft, die gut läuft. Aber klar: In den nächsten Jahren dürfen aufgrund des Volksentscheids nicht mehr 80000 pro Jahr netto kommen. Die Einwanderung muss zurück­gehen.

Chefdiplomat Yves Rossier sagt, dass es schwierig sei, die geforderte Kontingentierung der Einwanderung umzusetzen, ohne das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU zu verletzen. Hat er recht?
Es ist eine anspruchsvolle Bergtour. Aber das Volk hat entschieden. Wir müssen versuchen, die bilateralen Verträge zu erhalten und ein Kontingentsystem einzuführen. Das beisst sich tatsächlich. Es wäre deshalb enorm wichtig, dass sich die Verhandlungsführer jetzt mit grösstem Engagement dafür einsetzen. Ich bin zuversichtlich, dass wir letztlich eine Lösung finden werden.

Gewerkschaften und Linke sprechen bereits von einer Abstimmung über die bilateralen Verträge. Sie soll die Abstimmung vom 9. Februar revidieren.
Dies steht für mich nicht im Vordergrund. Die Botschaft der Abstimmung ist klar: Eine knappe Mehrheit will, dass die Zuwanderung von heute rund 80000 Personen reduziert wird. Diese Vorgabe müssen wir erfüllen.

Persönlich: Heinz Karrer (54) war von 2002 bis 2014 CEO des Schweizer Energiedienstleistungskonzerns Axpo Holding. Seit dem 1. September 2013 präsidiert er den Wirtschaftsdachverband Economiesuisse. Der ehemalige Handballspieler ist Vater von drei Söhnen.

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