HSG-Professorin Monika Bütler will den Wohlfahrtsstaat umbauen
«Die Sozialhilfe ist für ältere Ausgesteuerte viel zu knapp»

Sie gehört zu den einflussreichsten Ökonomen im Land. Monika Bütler wagt klare Thesen: zu Frauenförderung, Zuwanderung und Sozialhilfe.
Publiziert: 20.12.2014 um 16:00 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 19:55 Uhr
Parteilos und liberal: Volkswirtschaftsprofessorin Monika Bütler (53).
Foto: Mirko Ries
Von Joël Widmer und Nico Menzato (Interview) und Mirko Ries (Fotos)

BLICK: Frau Professorin Bütler, die FDP klagt über immer mehr Regulierungen. Berechtigt?
Monika Bütler:
Ja. Heute wird zu viel reguliert. Als wir unser Haus renovierten, mussten wir bei der 110-jährigen Es­trichtreppe den Abstand der Tritte um zwei Zentimeter verkleinern. Obwohl unsere Kinder bereits im Alter von drei Monaten zu gross waren, um zwischen den Tritten herunterzufallen.

Die SP warnt vor der sich öffnenden Lohnschere. Berechtigt?
In der Schweiz unberechtigt, was das verfügbare Einkommen betrifft. Wir haben zwar ein überdurchschnittliches Ansteigen der hohen Löhne. Aber Steuern und Umverteilung führen zu einer stabilen Einkommensverteilung.

Die SVP warnt vor der Masseneinwanderung.
Unberechtigt. Aber Einwanderung hat immer Kosten und Nutzen. Deren Gewichtung ist auch eine politische Frage.

Grüne warnen vor Atomkraftwerken. Ist das berechtigt?
Ach. Nun haben Sie mich erwischt.

Sie sind ja nicht nur Ökonomin, sondern auch Physikerin.
Ich bin gegenüber Atomkraftwerken sehr skeptisch. Beim Stand der heutigen Technik bin ich dezidiert gegen neue AKW. Aber es ist falsch, heute etwas zu verbieten, was uns morgen saubere Energie liefern könnte.

Wo stehen Sie politisch?
Ich bin in keiner Partei, das würde ich keinen Tag aushalten, die Partei wohl auch nicht. Ich bin wie fast alle Ökonomen liberal. Die Schweiz braucht weniger Regulierungen und einen liberalen Arbeitsmarkt. Aber auch eine gute soziale Absicherung. Die Schweiz macht zu wenig für die Umwelt. Viele Gegenden sind zersiedelt, die Mobilität ist zu billig. Wenn ich nach St. Gallen pendle, werde ich doppelt bevorteilt: Das GA ist subventioniert, und ich kann es von den Steuern ab­ziehen. Wenn auch nur das 2.-Klasse-GA (lacht).

Charakterisieren Sie unseren Bundesrat!
(Überlegt lange) Er ist mir manchmal zu zögerlich und zu wenig aufklärerisch. Er reagiert, statt zu agieren. Viele Entscheide sind sehr punktuell.

Wo ist der Bundesrat zu passiv?
Bei der Zuwanderung. Der Bundesrat hat es verpasst, die Probleme, die sich aus der hohen Zuwanderung ergeben, anzugehen. Etwa EU-Bürger, die in die Sozialwerke einwandern, konsequent zurückschicken. Zur Verunsicherung der Stimmbürger beigetragen hat, dass über viele Aspekte der Einwanderung nicht informiert wird. Woher kommt die grosse Anzahl fremdsprachiger Kinder in den Schulen? Welche Branchen holen Arbeiter aus dem Ausland, weil es hierzulande wirklich keine Alternativen gibt, welche tun es, weil Personal aus dem EU-Raum billiger ist?

Wie soll er die Masseneinwanderungs-Initiative umsetzen?
Ehrlich gesagt: Ich habe keine Ahnung.

Sie sind für Leitplanken bei der Einwanderung. Welche?
Die Idee, dass eine Firma, die jemanden aus dem Ausland anstellt, eine Gebühr zahlt, finde ich nicht abwegig. Aber sie wäre sehr wahrscheinlich nicht mit der Personenfreizügigkeit vereinbar. Was gar nicht geht: Mit Steuergeschenken Firmen aus dem Ausland anlocken. Diese nehmen oft das ganze Personal mit – und kurbeln damit die Zuwanderung an. Zudem ist es eine Diskriminierung inländischer Firmen. Der wirtschaftliche Nutzen solcher Tiefsteuer-Ansiedelungen ist unklar.

Zurück zum Bundesrat. Welcher macht seinen Job am besten?
Das kann ich kaum beurteilen, der Bundesrat entscheidet letztlich als Kollektiv. Alain Berset ist mutig, weil er es mit seinen Vorschlägen zur Altersreform wagt, eine umfassende Reform aufzugleisen. Auch wenn sie immer noch zu wenig weit geht.

Wie beurteilen Sie unser Konkordanz-Regierungssystem?
Bei aller Kritik am System: Ich wüsste nicht, was besser wäre.

Wirklich gut ist es aber auch nicht?
Es führt zu einem trägen und eher langsamen Politbetrieb. Dafür ist es stabil und berechenbar.

Wann ist die Trägheit ein Nachteil?
Etwa bei einer AHV-Reform – allerdings auch wegen der direkten Demokratie. Andere Regierungen konnten einfacher entscheiden. In Italien ist die Altersversicherung heute gesund. Weil sie bereits in den 90er-Jahren saniert worden ist.

Apropos Altersvorsorge: Wirtschaftsvertreter fordern ein höheres Rentenalter. Schicken aber viele Arbeitnehmer frühzeitig in Pension. Das ist doch ein Widerspruch.
Frühpensionierungen haben in den letzten Jahren – entgegen der verbreiteten Meinung – stark abgenommen. Auch weil sich es die Firmen nicht mehr leisten können. Früher konnten sie dies über die Pensionskasse abfedern. Heute fehlen die Reserven.

Die älteren Arbeitnehmer werden einfach auf die Strasse gestellt!
Nicht stärker als früher.

Reden wir über die Sozialhilfe. Ist diese zu fürstlich?
Die Institution der Sozialhilfe ist richtig. Das Niveau der Unterstützung ist aber in vielen Fällen zu hoch. Für ältere Ausgesteuerte hingegen ist es zu knapp.

900 Franken pro Monat sind zu viel?
Dazu kommen viele zusätzliche Beträge: Gesundheitskosten, die Wohnung, Kinderbetreuung und vieles mehr. So kommen Sozialhilfeempfänger auf Beträge, die teilweise weit über den Einkommen der arbeitenden Bevölkerung liegen. Eine Familie mit vier Kindern erhält etwa 6000 Franken pro Monat. Netto – das entspricht fast 100 000 Franken pro Jahr brutto.

Wo würden Sie die Sozialhilfe runterfahren?
Vor allem bei den Jungen. Ein 20-Jähriger braucht weniger Geld als ein 50-Jähriger. Er hat viele Vergünstigungen, kann zu Hause oder in einer Wohngemeinschaft günstig wohnen. Das soziale Existenzminimum ist hier viel zu grosszügig. Auch bei kinderreichen Familien braucht es Änderungen.

Dann ist eine grosszügige Sozialhilfe ein Anreiz, nicht zu arbeiten?
Genau. Oder man arbeitet genau so viel, dass man innerhalb des unversteuerten Freibetrages bleibt. Aber nicht mehr.

Weil man sich sonst die Sozialhilfe selbst kürzt?
Ja. Massiv. Wer arbeitet und aus der Sozialhilfe fällt, hat oft mehrere Hundert Franken weniger. Bei Familien noch mehr.

Machen heute die Schweizer schneller die hohle Hand?
Wahrscheinlich schon, ja. Eine Studie aus Deutschland zeigt, dass die Hemmungen, Sozialhilfe zu beziehen, deutlich abgenommen haben. Hier wird es kaum anders sein.

Sind die Bürger egoistischer geworden und haben weniger Skrupel, vom Staat zu leben?
Dafür gibt es Indizien – nicht nur bei den Sozialhilfeempfängern. Leute mit relativ hohen Einkommen beanspruchen Krippensubven­tionen und bleiben in subventionierten Wohnungen – obwohl sie längst zu viel verdienen.

Wie bringt man Sozialhilfebezüger in den Arbeitsmarkt zurück?
Tiefere Leistungen führen zu Anreizen, einen Job zu suchen. Firmen beklagen sich nicht, dass sie bei nicht allzu gut bezahlten Jobs von Bewerbern überrannt werden. Viele sind nicht motiviert, früh aufzustehen und eine Arbeit zu machen, bei der sie kaum mehr ver­dienen als mit der Sozialhilfe. Es braucht aber auch Ausbildungsangebote, gerade für Junge.

Wenn die Sozialhilfe bei kinder­reichen Familien runtergefahren wird – dann leiden doch als Erste die Kinder?
Sie leiden so oder so. Mit Geld wird ihnen nicht geholfen. Sie leiden mehr darunter, dass sie nicht gefördert werden und die Eltern nicht integriert sind, als wenn ihnen ein Spielzeug fehlt. Zudem: Möbel, Kinderkleider und Spielzeuge gibt es heute fast gratis. Im Internet, in Brockenstuben oder von Verwandten und Bekannten. Wir haben unseren Kinderwagen für 20 Franken gekauft.

Reden wir über Frauenförderung. Der Bundesrat plant bei börsen­kotierten Firmen eine Frauen­quote von 30 Prozent in Verwaltungsrat und Geschäftsleitung. Braucht das die Schweiz?
Nein. Das ist eine ganz schlechte Idee.

Warum?
Erstens haben wir in der Schweiz Vertragsfreiheit. Eine Firma soll selbst entscheiden dürfen. Zweitens schadet eine solche Quote den Frauen. Am Ende wird sie als Deckmäntelchen benutzt – man habe ja schliesslich etwas für die Frauen gemacht. Das Beispiel Norwegen zeigt: Die Quote hat zu mehr Frauen in Verwaltungs­räten geführt. Aber auf allen anderen Kaderstufen ist gar nichts passiert.

Die Frauenquote in Geschäftsleitungen liegt unter sieben Prozent. Das ist doch unterirdisch tief!
Viele Unternehmen bemühen sich sehr, Frauen nicht zu verlieren. Gemischte Teams sind oft produktiver und innovativer. Aber sie sind es nur dann, wenn die Firmen sie selber zusammenstellen können, und nicht wenn der Staat über die Zusammensetzung bestimmt.

Sind denn die Frauen zu schlecht, dass sie nicht auf eine höhere Quote kommen?
Nein. Viele Frauen möchten keine Karriere, andere wählen nicht die Berufe mit guten Aufstiegschancen. Es fehlen Ingenieure, Naturwissenschaftlerinnen, Finanzwissenschaftlerinnen. Im Verlauf der Karriere fallen zudem viele Frauen heraus, weil sie die Förderung nicht bekommen, die gleich qualifizierte Männer selbstverständlich erhalten.

Wie durchbricht man das?
Es gibt Beispiele: Seit man die Musiker hinter einem Vorhang vorspielen lässt, wurden die Orchester viel weiblicher. Im Geschäftsleben ist das natürlich schwieriger. Die beste Schiene ist hier die Aufklärung.

Wie behält man Frauen, die Kinder kriegen, im Arbeitsmarkt?
Mit zwei Vollzeitpensen ist es als Paar schwierig, sich mit Kindern zu organisieren. Das gängige Muster ist heute: Sie arbeitet 40 Prozent und er 100 Prozent. Es ginge auch anders: Beide könnten 80 Prozent arbeiten. Mein Mann hat sich eine Zeit lang viel mehr um die Kinder gekümmert und weniger gearbeitet als ich. Danach war ich wieder mehr zu Hause.

Warum hält sich das traditionelle Familienbild? Sie beobachten das ja auch bei Ihren Studentinnen.
Ja. Sie richten ihre Berufswahl oft auf die Teilzeit aus statt auf ihre Chancen und Interessen. Ironischerweise hat das auch mit unserem guten Arbeitsmarkt und dem Lohnniveau zu tun. In keinem anderen Land – ausser Holland – ist die Teilzeitarbeit so verbreitet. Anderswo heisst die Wahl: Vollzeitstelle oder keine Stelle. Mit 40 Prozent muss man in den meisten Ländern nicht kommen.

Sollten also auch Männer mehr Teilzeit arbeiten?
Es liegt nicht an mir zu sagen, was andere machen sollen. Ich selber finde es ein gutes Modell. Für die Kinder, für die Partnerschaft. Letztlich muss der Staat dafür sorgen, dass die Leute das Lebensmuster wählen können, welches ihnen liegt. Heute haben wir Strukturen, die das Einverdienermodell bevorzugen.

Wieso?
Der Verheiratetentarif ist auf das traditionelle Familienmodell ausgerichtet. Der Zweitverdienst wird durch die Steuerprogression stark belastet. Diese müsste für den Zweitverdienst reduziert werden. Und es braucht genügend Betreuungsplätze. Aber noch wichtiger wären gute Tagesschulen.

Warum Tagesschulen?
Sie erleichtern nicht nur die Organisation der Familien, sondern fördern auch die Integration der Ausländerkinder. Die Integration geschieht ja nicht in der Mathestunde, sondern über Mittag, in Pausen, beim Spielen in durchmischten Gruppen.

Sie sind eine Karrierefrau: Worauf haben Sie verzichtet?
Ich hatte nie Zeit für mich selbst. Erst im letzten Jahr habe ich ab und zu etwas für mich ­alleine machen können. Arbeit und Familie füllen meine Zeit noch immer fast ganz aus. Wobei mir all das, was ich mit der Familie unternehme grosse Freude macht.

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