Die Meinungen sind gemacht: «Italiens Staat ist grotesk hoch verschuldet. Keine italienische Regierung hat je den Berg abgetragen. Dennoch hat die Brüsseler Kommission immer wieder Abweichungen zugelassen, wie das Eltern mit einem ungezogenen Kind tun ...» Dieser Kommentar im «Tages-Anzeiger» ist typisch für die Italien-Berichterstattung: Brüssel, die Kapitalmärkte und wir Journalisten wissen, was Italien schadet. Die Populisten wissen es auch, wollen es aber nicht wahrhaben.
Konkret geht es um einen Budgetentwurf, der ein Defizit von 2,4 Prozent des BIP vorsieht, verursacht unter anderem durch einen leichten Ausbau der Arbeitslosenversicherung und ein früheres Pensionsalter. Die EU-Kommission verlangt indessen, dass sich Italien an das von der abgewählten Regierung versprochene Defizit von 0,8 Prozent hält, und die Kapitalmärkte haben Italiens Zinsen erhöht. Sie «wissen», dass höhere Schulden alles nur noch schlimmer machen.
Seit 12 Jahren ist der Wurm drin
Doch irgendetwas muss sich in Italien ändern. Seit spätestens 12 Jahren ist der Wurm drin. Das BIP pro Kopf liegt heute 6 Prozent tiefer als 2006. Die Jugendarbeitslosigkeit ist auf 31 Prozent gestiegen. Seit 2000 sind die Löhne im Schnitt um 3,1 Prozent geschrumpft. Dass dies mit der Zwangsjacke des Euro-Vertrags zusammenhängt, ist zumindest ein nahe liegender Verdacht, den natürlich auch die Italiener hegen. Da muss doch die Frage erlaubt sein, ob dieser Vertrag noch sinnvoll ist oder ob er es je war.
Ja, Italiens Staatsschulden sind mit 131 Prozent des BIP hoch, aber dieser Wert ist seit vier Jahren stabil. Spektakulär ist hingegen eine andere Entwicklung: Dank sinkender Löhne, Steuern (minus 49 Prozent in zehn Jahren) und Investitionen (minus 20 Prozent) erzielt Italiens Unternehmenssektor jährliche Nettoüberschüsse von etwa 2,5 Prozent des BIP. Die Unternehmen sind also nicht mehr auf die Netto-Ersparnisse der Privathaushalte (von bloss etwa 1,5 Prozent des BIP gegenüber 12 Prozent in der Schweiz) angewiesen. Die Unternehmen werden also selbst zu Sparern. Auch das Land insgesamt erzielt seit Jahren einen soliden Exportüberschuss.
Politisch brisante Folgen
Das heisst: Das Ausland verschuldet sich also gegenüber Italien, nicht umgekehrt. Innerhalb von Italien jedoch häufen die Unternehmen und die reichen Haushalte Guthaben gegenüber dem Staat an – und verkaufen diese an die Europäische Zentralbank.
Das Euro-Konstrukt hat somit zwei politisch brisante Folgen. Erstens sorgt es dafür, dass die EU-Gemeinschaft doch irgendwie für Italien haften muss, auch wenn sie das eigentlich nicht will. Dafür aber beansprucht sie das Recht, das «ungezogene Kind zu erziehen», wie es der «Tages-Anzeiger» ausdrückt. Dies wiederum muss für die stolzen Italiener beleidigend wirken. Zweitens muss Italien, wie jedes Euro-Land, akzeptieren, dass es punkto Geldpolitik von fremden Richtern beziehungsweise Notenbankern regiert und von den Kapitalmärkten erpresst wird. Jedes Prozent Zins mehr kostet Italien rein rechnerisch 23 Milliarden Euro. Zurzeit beträgt die jährliche Zeche gut 70 Milliarden.
Italien fühlt sich ungerecht behandelt
Kommt dazu, dass sich Italien ungerecht behandelt fühlen darf. Etwa gegenüber Frankreich, dessen für 2019 geplantes Defizit von 2,8 Prozent – nach 2,6 Prozent im laufenden Jahr – von Brüssel klaglos geduldet wird. Frankreich hat zwar (gemessen am BIP) weniger Schulden als Italien, aber es weist chronische Importüberschüsse aus, wälzt also seine Schulden auf das Ausland ab.
Die von Brüssel auferlegten Sparzwänge haben bewirkt, dass der italienische Staat nicht nur die Lohnsumme, sondern auch die Investitionen massiv gesenkt, respektive seit 2009 fast halbiert hat. Der grösste Bremsklotz der italienischen Wirtschaft war aber nicht der öffentliche Sektor, sondern die stark sinkende Kaufkraft der ärmeren rund 70 Prozent der Bevölkerung. So gesehen liegt Italiens Budgetentwurf, der steigende Staatsausgaben und höhere Renten und Löhne vorsieht, vielleicht doch nicht so total neben den Schuhen, wie viele Medien zu «wissen» glauben.
Regierung tritt wenig stilsicher auf
Klar: Über Italiens Budgetentwurf darf man geteilter Meinung sein. Wahr ist auch, dass die Regierung oft wenig stilsicher auftritt. Aber das Land befindet sich in einer äusserst schwierigen Lage. Man sollte sich schon ein wenig einfühlen, bevor man ein schnelles und selbstgerechtes Urteil fällt. Schliesslich sitzen alle Europäer im selben, lecken Boot.