Es ist alles in einem: Gestartet als chinesischer Klon der Nachrichten-Applikation WhatsApp, hat WeChat sein US-Vorbild längst mehrfach überrundet. Mit der App aus dem Reich der Mitte kann man sich verabreden, im Restaurant reservieren, das Menü vorbestellen und bezahlen.
Mittlerweile werden sogar Auto- und Hauskäufe über WeChat abgewickelt. Für die Chinesen ist die Anwendung im Alltag längst unverzichtbar.
Jetzt will Tencent, so heisst die Mutterfirma von WeChat, ihr erfolgreichstes Produkt in die Welt bringen. Nebst einer Milliarde Chinesen hat WeChat bereits 100 Millionen ausländischer Benutzer. Letztes Jahr startete WeChat in Deutschland.
Die Schweizer Bankendienstleisterin SIX ist in Verhandlungen mit Tencent, damit man mit der App auch hierzulande bezahlen kann. Wegen seiner Vielseitigkeit hat die App auch in der Schweiz viele Fans.
China-Kenner: «WeChat ist absolutes Muss»
Markus Gut (52), CEO der Zürcher Branding-Agentur Process, die eine Niederlassung in Shanghai unterhält, zu SonntagsBlick: «Für eine Schweizer Firma, die in China auch nur irgendwie Geschäfte machen will, ist WeChat ein absolutes Muss.»
Viele Unternehmen erstellten zunächst ein WeChat-Profil, bevor sie eine Webseite aufschalteten. Guts Agentur hilft ihnen dabei. Er ist überzeugt: «Sobald man bei uns mit WeChat zahlen kann, wird sich die App rasant verbreiten. Sie hat eine unglaubliche Power!»
Doch Datenschützer im Westen warnen genau vor dieser Power. WeChat-Besitzerin Tencent hat zwar einen Börsenwert von über 500 Milliarden Dollar. Doch der Internet-Gigant aus Shenzhen, der chinesischen Tech-Metropole neben Hongkong, ist eine Blackbox.
Mails von SonntagsBlick bleiben unbeantwortet. Gründer Pony Ma (46) ist laut «Forbes» der dreizehntreichste Mann der Welt. Ein Interview gab der 16-fache Milliardär noch nie. In einem Transparenz-Rating von Amnesty International erreichte Tencent desaströse null von hundert Punkten.
Peking liest mit
Das oft gescholtene Facebook, dem auch WhatsApp gehört, schaffte es immerhin auf 73 Punkte. Patrick Walder (50), Datenschutz-Experte von Amnesty Schweiz, warnt: «Die Apps sind Datenstaubsauger. Das Risiko ist gross, dass persönliche Informationen direkt bei der chinesischen Regierung landen – selbst wenn man die App im Ausland braucht.» Auch Firmen sollten sich bewusst sein, dass Peking mittels WeChat Zugriff auf Betriebsgeheimnisse hat. «Ein Missbrauch der Daten ist sehr wahrscheinlich.»
Dass Tencent mit dem Regime kollaboriert, ist kein Geheimnis. Im letzten September berichteten asiatische Medien, dass die Datenschutzbestimmungen für Tencent-Apps geändert wurden.
Benutzer mussten zustimmen, dass Tencent so ziemlich alle private Informationen seiner Benutzer abspeichern darf. Wer nicht zustimmte, durfte WeChat nicht mehr benutzen. Will der chinesische Staat Zugriff auf die Daten, braucht er lediglich anzufragen. Nicht einmal der Verdacht auf eine kriminelle Handlung ist nötig.
Tencent ist eine von acht Firmen, die für die chinesische Regierung ein Pilotsystem für den «Social Score» (Soziale Bewertung) ausgearbeitet haben. Ab 2020 sollen in China alle Privatpersonen und Firmen nach ihrer «Vertrauenswürdigkeit» eingestuft werden. Mit realen Konsequenzen!
Eine höhere Punktzahl gewährleistet zum Beispiel einfacheren Zugang zu Krediten. Punkte verlieren kann man, wenn WeChat-Freunde Negatives über das Regime posten – oder wenn man selber bei Rot über die Strasse geht. Die totale Überwachung der Gesellschaft. Ermöglicht durch eine einfache Chat-App.