Der starke Franken plagt die Schweizer Wirtschaft seit Jahren. Mit der Einführung des
Euro-Mindestkurses im Jahr 2011 verschafft die Nationalbank den Firmen Luft. Bis zum Frankenschock,
als die Untergrenze im Januar 2015 fällt. SNB-Präsident Thomas Jordan blickt zurück.
Christian Kolbe (Text), Jessica Keller (Fotos), Luca Hunold (Video)
Die Rettung kommt in der Person des Notenbankers: Elegant kommt Philipp Hildebrand (57) die Treppe
ins Entrée der Schweizer Nationalbank in Bern hinunter, tritt an das improvisierte Rednerpult und
verkündet am 6. September 2011 die Einführung des Euro-Mindestkurses. Ein Euro soll künftig nicht
weniger kosten als 1.20 Franken, eine weitere Aufwertung des Frankens werde die Nationalbank
unterbinden. «Koste es, was es wolle», wie der BLICK am nächsten Tag schrieb.
«Das war keine spontane Entscheidung. Die Nationalbank hat für verschiedene Szenarien laufend
geprüft,
welche Instrumente zur Verfügung stehen», erinnert sich Thomas Jordan (56), heute Präsident der
Nationalbank, damals Vizepräsident. «Die Möglichkeit der Einführung eines Mindestkurses ist über
Monate diskutiert und vorbereitet worden.»
Die Schweizer Wirtschaft hatte einen neuen Helden! Den Präsidenten der Nationalbank, die mit einer
radikalen Massnahme, Exportindustrie, Detailhandel und Tourismus vor dem immer stärker werdenden
Franken schützen wollte. Einen Helden allerdings, der nur wenige Wochen später über Dollarkäufe seiner
Frau stürzen sollte.
Dramatisches Vorspiel zum Mindestkurs
Die Wochen zuvor dagegen verliefen dramatisch. Im Sommer 2011 hatte der Euro gerade noch einen Wert
von 1.10 Franken – 50 Rappen weniger als beim Ausbruch der Finanzkrise. Vor allem die stark vom Export
abhängige Maschinenindustrie litt, wie Hans Hess (64), Präsident des Branchenverbandes Swissmem,
erzählt: «Die Produkte der Maschinenindustrie haben sich laufend verteuert, haben wegen des
Wechselkurses innert Jahresfrist um bis zu einem Drittel mehr gekostet.»
Mit milliardenschweren Devisenkäufen versuchten die Währungshüter in der ersten Augustwoche 2011, die
Wirtschaft vor dem Schlimmsten zu bewahren. Doch die Finanzmärkte lachten nur über diese Massnahme, zu
dramatisch war die Euro-Schuldenkrise. Keiner glaubte, dass die Schutzschirme für die
Euro-Krisenstaaten Griechenland, Spanien und Italien halten könnten.
«Das grosse Zittern», titelte der BLICK am 6. August. Seit Tagen befanden sich die Börsen im freien
Fall, der Euro knallte auf ein Rekordtief von 1.0727 Franken! «Der Schweizer Exportwirtschaft und dem
Tourismus steht das Wasser bis zum Hals», heisst es weiter. Jan-Egbert Sturm (49) von der
Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich forderte: «Es braucht eine Grenze nach unten.» Doch bis
dahin sollte es noch einen Monat dauern. Inzwischen wuchs die Verzweiflung, Firmen liessen ihre
Angestellten länger arbeiten – 45 statt 40 Stunden pro Woche, ohne Lohnausgleich.
«Jetzt geht es um die Existenz»
In Bern trafen sich Wirtschaft und Bundesrat zu einer Krisensitzung. Mit dabei: Herbert Bolliger
(65). «Wir wollten einfach wieder mehr Sicherheit. Wir brauchten eine Richtschnur, ob die bei 1.15,
1.20 oder 1.25 Franken lag, das war weniger entscheidend», sagt der damalige Chef der Migros heute.
Und: «Wir haben vor allem eine Grenze gebraucht, um Verhandlungen mit den Lieferanten zu führen.»
Denn immer lauter forderten die Konsumenten sinkende Preise. Oder sie gingen einfach als
Einkaufstouristen über die Grenze. «Es hat eine richtige Flucht aus der Schweiz stattgefunden»,
erzählt Bolliger.
Auch Hans Hess war damals an der Krisensitzung dabei: «Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann
(67) wollte erst längerfristige Massnahmen diskutieren. Da habe ich ihm gesagt: Jetzt geht es um die
Existenz der Industrie, jetzt musst du sofort etwas unternehmen.»
Als am 5. September die Börsen nochmals abstürzten, holte am nächsten Tag die «Nationalbank den
Hammer raus», wie BLICK damals schrieb – und führte die von der Wirtschaft gewünschte «Richtschnur»,
den Mindestkurs gegen den hammerharten Franken ein.
Jordan blickt auf den dramatischen Sommer 2011 zurück: «Der Franken hat sich gegenüber allen
massgeblichen Währungen rasch und massiv aufgewertet, gegenüber Dollar, Euro und Yen. Wir haben
versucht, mit verschiedenen anderen Massnahmen die Frankenstärke zu stoppen. Aber am Schluss hat sich
gezeigt, dass nur die Einführung des Mindestkurses die extreme Situation bereinigen kann.»
Vorerst ging allerdings das Wehklagen der Wirtschaft weiter. Der Schock des stetig fallenden Frankens
sass noch tief. Die Forderung nach einer Erhöhung des Mindestkurses machte schnell die Runde. «Der
Mindestkurs hat der Industrie zwar erst mal etwas Luft verschafft, Planungssicherheit gegeben»,
erinnert sich Hess. «Doch viele Firmen mussten weiter daran arbeiten, Kosten zu senken und effizienter
zu werden.»