Es geht uns sehr, sehr gut. Aber ist das in Zukunft noch so? Fakten, Zahlen, internationale Vergleiche – BLICK macht den grossen Check.
Ohne Feuerwerk, dafür mit Cervelat – heute feiert die Schweiz sich selbst. Wir haben auch allen Grund dazu: Uns geht es richtig gut. Wir können uns fast alles leisten, kommen bequem an fast jeden Ort im Land, die Natur ist schön und sauber ... Kurz: Das Leben in der Schweiz ist für die allermeisten sehr angenehm. Kein Wunder, gibt es kaum ein Land, in dem die Menschen zufriedener sind.
Nur: Wird das auch morgen noch so sein? Oder droht der Wohlstand uns träge zu machen? BLICK hat die Schweiz einem Zukunfts-Test unterzogen, um herauszufinden, wo die Schweiz im internationalen Vergleich steht und ob sie wirklich fit für die Zukunft ist.
Im ersten Teil nehmen wir die Lebensqualität unter die Lupe. Dann die Demokratie, die Wettbewerbsfähigkeit, die Bildung und die Sicherheitspolitik. Und wir vergeben Noten: Von 1 wie versagt bis 6 wie hervorragend.
In Rankings zur Lebensqualität belegt die Schweiz stets Spitzenplätze. Doch bei einem Punkt hapert es: Wir arbeiten zu viel.
Adrian Meyer
Ein kühler Schluck direkt ab dem Wasserhahn. Für mehr als zwei Milliarden Menschen ist das unvorstellbar. In der Schweiz geniesst jeder Haushalt diesen Luxus.
Sauberes Wasser ist hier eine Selbstverständlichkeit unter vielen. Die Infrastruktur gehört weltweit zu den besten, das Eisenbahnnetz ist Weltspitze. Die Lebenserwartung ist mit 83,4 Jahren hinter Japan (83,7) die höchste. Beim Arzt wartet man nicht monatelang auf einen Termin: 4,2 Ärzte kommen auf 1000 Einwohner. Innerhalb der Länder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sind es im Schnitt bloss 3,3.
In der Schweiz herrscht seit Jahrzehnten Frieden, die Kriminalität ist tief, die Einkommen sind hoch: Rund 36'400 Dollar stehen einem Schweizer Haushalt jährlich zur Verfügung – deutlich mehr als der OECD-Schnitt von 30'600 Dollar. Und es bleibt uns pro Monat zum Leben mehr (3474 Franken). Und: Die Schweiz hat europaweit die höchste Dichte an Sterneköchen: Auf 10'600 Einwohner kommt ein Spitzenrestaurant. Bei den «normalen» Restaurants sind es je vier auf 1000 Einwohner.
An die hohe Lebensqualität, daran hat man sich gewöhnt. Es überrascht kaum noch, wenn Schweizer Städte zu den lebenswertesten gewählt werden. Laut der jüngsten Mercer-Studie zur Lebensqualität liegen Zürich (Platz 2), Genf (Platz 8) und Basel (Platz 10) erneut unter den Top Ten weltweit. Vorne liegt derzeit Wien.
Die Schweiz gilt aktuell laut dem World Happiness Report der Vereinten Nationen als fünftglücklichstes Land. Es war schon mal Spitzenreiter. Andere Rankings zeichnen die Schweiz als «bestes», «wettbewerbsfähigstes» und «innovativstes» Land aus. Kurz: «Der Schweiz geht es sehr, sehr gut», sagt der Ökonom und Glücksforscher Bruno Frey (77).
Hapert es denn nirgends? Den besten internationalen Vergleich des gesellschaftlichen Wohlergehens bietet der Better Life Index der OECD. Er betrachtet materielle Bedingungen für die Lebensqualität wie Einkommen und Wohnsituation sowie immaterielle Bedingungen wie Gesundheit, Bildung, Umwelt, Sicherheit, Bürgerbeteiligung und Work-Life-Balance.
Die Schweiz schneidet hier mit Platz sechs überdurchschnittlich gut ab. Trotzdem gibt es Nachholbedarf. Bloss mittelmässig ist die Work-Life-Balance. Jeder zehnte Schweizer arbeitet mehr als 48 Stunden in der Woche – das ist laut der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) Europarekord. Die Schweizer haben dazu täglich bloss 15 Stunden Zeit für Grundbedürfnisse ausserhalb der Arbeit. Die Dänen, Holländer und Franzosen haben eine Stunde mehr.
Hinzu kommt, dass Kinderkrippenplätze in der Schweiz knapp und teuer sind. Fast ein Drittel des Einkommens geht in der Schweiz für die Betreuung von zwei Kindern drauf – im OECD-Schnitt sind es rund 15 Prozent.
Selbst bei der vermeintlich sauberen Umwelt hat die Schweiz Probleme. So etwa bei der Feinstaubbelastung. Hier übersteigt die Schweiz mit durchschnittlich 14,5 Mikrogramm pro Kubikmeter den Richtwert der Weltgesundheitsorganisation von zehn Mikrogramm deutlich.
Dass das Leben im Schweizer Paradies einen hohen Preis hat, ist ein altes Klischee. Interessant wird ein Blick auf die Kaufkraft – hier schwingen Schweizer Städte trotz des hohen Preisniveaus obenaus. Nirgends muss man für das neuste iPhone so wenig arbeiten wie in Zürich – nämlich bloss 38,2 Stunden. Für einen Big Mac sind es 13,4 Minuten. Das zeigt die aktuelle Lebenskostenstudie der UBS. Zum Vergleich: In Istanbul sind es 567,7 Stunden für ein iPhone und 66,5 Minuten für einen Big Mac.
Die Schweiz ist unbestritten eine Wohlstandsinsel. Das Land hat es durch Fleiss, einer stabilen Politik, ihrer Lage mitten in Westeuropa und einem Stück Glück sehr weit gebracht. «Die Schweiz ist heute enorm flexibel und kann sogar Rückschläge wie die Finanzkrise gut auffangen», sagt Ökonom Bruno Frey. «Das ist ein tolles Zeugnis für unser Land.»
Die Norweger sind gemäss Better-Life-Index die zufriedensten Bürger innerhalb der OECD. Tatsächlich sind dort Wasser und Luft noch sauberer als in der Schweiz, das Land hat einen stärkeren Gemeinsinn, eine gesunde Work-Life-Balance und ein hohes Bürger-Engagement (Wahlbeteiligung von 78 Prozent). In Norwegen bekommen Frauen zum Beispiel bis zu 45 Wochen Mutterschaftsurlaub. In der Schweiz sind es nur 14 Wochen. Zudem sind Wohnungen in Norwegen weit erschwinglicher als in der Schweiz – die Norweger geben dafür vier Prozent weniger vom Einkommen aus. Vor allem aber ist Norwegen das sicherste Land innerhalb der OECD – zumindest sieht das die Bevölkerung so.
Der Basler Wirtschaftswissenschaftler Bruno Frey (77) ist ein Pionier der ökonomischen Glücksforschung und einer der einflussreichsten Ökonomen der Schweiz. Er versteht nicht, warum Schweizer jammern. Sie sollten dankbarer sein.
Adrian Meyer
Bruno S. Frey (77) ist einer der einflussreichsten Schweizer Ökonomen. Der Basler zählt zu den Pionieren der Glücksforschung. Nach dem Studium in Basel lehrte er im In- und Ausland. Frey geniesst hohes internationales Ansehen, seine Bücher werden weltweit übersetzt. Er ist mit der Ökonomin Margit Osterloh (75) verheiratet.
BLICK: Herr Frey, sind Sie glücklich?
Bruno S. Frey: Ich bin sehr glücklich. Ich habe einen wunderbaren Beruf, eine
angenehme Familie und pflege viele soziale Kontakte. Mir geht es ausgezeichnet.
Was macht Sie zu einem glücklichen Menschen?
Ich weiss durch meine Forschung, welche Voraussetzungen es braucht, um glücklich zu sein. Ganz
wichtig ist das Einkommen. Wer arm ist, muss dauernd ans Geld denken, das ist eine Katastrophe. Wer
besser verdient, ist von diesen Sorgen befreit. Das Zweite sind die persönlichen Beziehungen, gute
Freunde, ein schönes Familienverhältnis. Das Dritte ist die Gesundheit. Das ist nicht überraschend,
aber sehr wichtig. Ich hatte bei allem Glück.
Also stimmt die Glücksformel – ein Drittel Haben, ein Drittel Lieben, ein Drittel
Sein?
Auf jeden Fall. Aber es braucht dazu noch etwas Weiteres, sehr Wichtiges: gute politische
Verhältnisse. So wie in der Schweiz. Wenn Menschen mehr Mitsprache haben, sind sie zufriedener. In
einer Diktatur ist es unmöglich, glücklich zu sein.
Die Schweiz gehört zu den reichsten, freiesten, sichersten Ländern. Warum jammern wir
trotzdem?
In der Schweiz prahlt niemand mit seinem Glück, man will nicht gross im Rampenlicht stehen. Das ist
doch sympathisch! Vor allem die Jungen sagen selten, es gehe ihnen blendend. Sie glauben daran, dass
es ihnen in Zukunft noch besser geht.
«Wenn Menschen mehr Mitsprache haben, sind sie zufriedener.»
Ist der Schweizer ein Jammeri?
Früher war das bestimmt so. Vor allem die Älteren schauten unzufrieden in die Welt hinaus. Die
Schweiz war lange ein bettelarmes Land. Das sitzt uns noch in den Knochen. Dass es uns gut geht, ist
eine relativ neue Entwicklung.
Wie gut geht es der Schweiz?
Sehr, sehr gut. In Befragungen zur Lebenszufriedenheit liegt die Schweiz weltweit an der Spitze.
Wo hapert es noch bezüglich der Lebensqualität?
Bei Kinderkrippen. Die sind in der Schweiz viel zu teuer. Das müsste sozialer werden. Und wir
sollten unser duales Ausbildungssystem weiter verbessern. Vor allem, damit die Zufriedenheit im
Beruf steigt. Es muss nicht jeder Akademiker werden.
Man muss also lange suchen, um etwas zu kritisieren.
Ich bin vielleicht allzu optimistisch und dankbar! Aber ich frage mich schon, warum man immer nur
das Negative sehen muss.
Um die Welt steht es derzeit nicht besonders gut.
Die Zukunft ist immer unsicher. Aber im Vergleich zu den meisten anderen Ländern können wir in der
Schweiz optimistisch sein. Ich bin es jedenfalls. Unsere politischen und wirtschaftlichen
Institutionen sind äusserst stabil, die Kriminalität ist tief. Das ändert sich nicht einfach so von
heute auf morgen. Die Schweiz ist extrem widerstandsfähig und flexibel.
Was sagen Sie Schweizern, die immer nur jammern?
Ich frage sie, wo sie lieber leben wollen. Wo ihre Kinder sonst aufwachsen sollen. Wenn sie darüber
nachdenken, fällt ihnen meist nichts anderes ein als die Schweiz. Natürlich beklagen sich einige zu
Recht. Kranke Menschen oder ältere Arbeitslose, die kaum mehr einen Job finden. Das kann ich gut
verstehen.
Haben die Schweizer vergessen, wie gut es ihnen geht?
Diese Gefahr besteht. Wem es gut geht, denkt nicht oft über seine Situation nach. Ein Blick ins
Ausland würde einigen helfen, um sich daran zu erinnern, wie gut es ihnen geht.
Macht mehr Geld stets noch glücklicher?
Nur Geld zu wollen ist lächerlich. Was machen unsere Top-Manager eigentlich mit ihren wahnsinnigen
Salären? Sie haben doch gar keine Zeit, ihr Geld auszugeben. So hart wie die arbeiten.
Was würde die Zufriedenheit erhöhen?
Mehr Zeit. Zeit für Freunde, um einfach mal zu reden, Zeit für sich selbst. Aber an freier Zeit
fehlt es uns in der Schweiz immer mehr.
Herr Frey, jammern Sie eigentlich auch manchmal?
Selten. Mir geht es wirklich gut. Man kann immer etwas kritisieren an diesem Land. Aber im Grossen
und Ganzen geht es uns schon sehr gut. Dafür sollten wir dankbar sein.
Krippenplätze sind in der Schweiz rar und teuer – und ein politischer Dauerbrenner. Das Parlament streitet derzeit zum vierten Mal in 15 Jahren darüber, ob das Förderprogramm für mehr Krippenplätze gestoppt werden soll. Wie viele Plätze es genau gibt, darüber gibt es keine offizielle Statistik. Ein Bericht der Universität St. Gallen schätzt die Zahl auf etwa 60'000. Das Problem sind aber nicht die Anzahl der Betreuungsplätze, sondern die hohen Betreuungskosten. Viele Familien können sich diese nicht leisten. Hier liegt der grösste Handlungsbedarf. Der Ball liegt nun beim Ständerat.
Die Feinstaub-Belastung zu verringern, ist eine der grössten Herausforderungen in der Schweizer Luftreinhalte-Politik. Um die Grenzwerte einzuhalten, müsste etwa die Hälfte aller Feinstaub-Emissionen verringert werden. Dazu beschloss der Bundesrat 2006 den Aktionsplan Feinstaub. Im Verkehr und in der Industrie sind die Emissionen bereits stark gesunken. Vor allem die Landwirtschaft stösst aber noch überdurchschnittlich viel Ammoniak aus, das durch Gülle in die Luft entweicht und Feinstaub bildet. Das einzige wirksame Mittel, um die Belastung zu senken, sehen Fachleute im Verringern des hohen Tierbestands.
Die Förderung günstigen Wohnraums wäre durch politische Massnahmen möglich. So hat etwa das Stadtzürcher Stimmvolk bereits 2014 eine Initiative angenommen mit dem Ziel, einen Mindestanteil preisgünstigen Wohnraums festzulegen. Voraussichtlich im Jahr 2020 wird das Schweizer Stimmvolk über die Volksinitiative «Mehr bezahlbare Wohnungen» abstimmen.
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BLICK-Serie: So steht es um die Schweiz
Es geht uns sehr, sehr gut. Aber ist das in Zukunft noch so? Fakten, Zahlen, internationale Vergleiche – BLICK macht den grossen Check.