Der Lawinenfrühling ist so mächtig wie seit Jahren nicht mehr und soll sogar bis Mai dauern. Durch die globale Erwärmung werden Lawinen künftig leichter abgehen. Der grosse Lawinen-Report.
Vinzenz Greiner, Mathias Bader, Spiridon Petridis
Ein traumhafter Skitag bringt den Tod. Am 16. März bläst der Föhn übers Skigebiet «Quatre Vallées», nur vereinzelt gleiten Wolken über den blauen Himmel. Das Thermometer klettert auf 16 Grad.
An diesem Freitag stürzen sich sieben Skifahrer in einen von Bäumen gesäumten Hang – ins Vallon d’Arbi. Dann, um 14.45 Uhr, reisst plötzlich die Schneedecke oberhalb der Rinne an zwei Stellen ein. Und schickt eine 400 Meter lange und 150 Meter breite Lawine aus Schnee und Erde ins Tal.
Die Abbruchstelle der Lawine bei Riddes im Unterwallis. Die Lawine ist 400 Meter lang und riss auf 2200 m ü. M. an.
Eine Person kann der Lawine davonfahren, sechs Skifahrer sind zu langsam. Von den sechs Verschütteten können sich zwei befreien. Zwei weitere können nur tot geborgen werden – begraben unter sechs Metern Schnee. Am Dienstag fand die Polizei eine weitere Leiche, die aber noch identifiziert werden muss. Ob der letzte Vermisste ein 57-jähriger Waadtländer oder ein 32-jähriger Franzose ist, ist daher unklar.
Das Problem bei der Suche: Die Skifahrer waren laut Walliser Kantonspolizei nicht mit Lawinensuchgeräten ausgerüstet, die man durch die Schneedecke hindurch orten kann. Offenbar liess auch keines der Opfer einen Lawinenballon steigen, der markiert, wo ein Verschüttert liegt. Die Suche gleicht der einer Stecknadel im Heuhaufen.
Besser ausgerüstet waren zwei deutsche Skitourengänger, die am Dinstagmorgen bei Pontresina GR von einer Frühlingslawine erfasst wurden. Ihre Lawinenairbags trieben sie in den Schneemassen nach oben.
Die Suche nach den beiden noch verschütteten Skifahrern im Wallis wird fortgesetzt.
Man habe die Hoffnung aufgeben, die Veschütteten lebend zu finden, sagte ein Sprecher der Walliser Kantonspolizei bereits am Montag zu BLICK. Die Wahrscheinlichkeit, in einer Schneelawine zu überleben, sinkt drastisch mit der Zeit. Beim letzten Vermissten liegt sie denkbar tief.
Schuld an der Walliser Lawinentragödie vom 16. März hat das warme Wetter. Denn Föhnwärme und Sonneneinstrahlung tauen Teile der Schneeoberfläche weg, die als Schmelzwasser bis zum Boden durchsickern. Auf dem nassen Gras- oder Felsuntergrund gleitet dann die gesamte Schneedecke in einem Rutsch nach unten – als sogenannte Gleitschneelawine, wie sie durchs Vallon d’Arbi pflügte.
Gleit- und Nassschneelawinen – diese sind Lawinen, die abgehen, weil Schneeschichten von Wasser durchtränkt und damit destabilisiert werden – entstehen bei nicht winterlichem Wetter. Sondern wenn es warm wird und Schnee schmilzt, oder statt Schneeflocken Regen fällt und die Schneedecke durchfeuchtet.
Ein Szenario, dass dank der globalen Klimaerwärmung öfters auftreten könnte?
Wie sich der Klimawandel auf Lawinen auswirke, sei Gegenstand der aktuellen Forschung, sagt Jürg Schweizer (57), Leiter WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF). «Sicher ist: Wenn es wärmer wird, regnet es auch im Winter immer wieder einmal auch bis in höhere Lagen.» Heisst: mehr Regen, weniger Schnee. Das hat Folgen für die Schneedecke. «Wenn es generell weniger Schnee gibt, dann ist in höheren Lagen der Aufbau der Schneedecke wohl häufig ungünstig», so SLF-Leiter Schweizer. Dadurch könne es schon bei mittlerem Schneefall verbreitet zu grossen Abgängen komme, da die ganze Schneedecke mitgerissen werde, erklärt Schweizer. Also: mehr grosse Gleitschneelawinen. Aber der Klimawandel bleibe der kleinere Faktor, sagt Schweizer: «Lawinen sind Extremereignisse, sie sind eher eine Frage des Wetters.»
Und das merken die Lawinenkundler und Schneesportler in diesem Frühling besonders. Gleit- und Nassschneelawinen seien vielerorts sehr mächtig und könnten in ihrer Sturzbahn viel Schnee mitreissen und gefährlich gross werden, sagt Lawinenprognostikerin Christine Pielmeier (55). Sie ist seit 2003 am Lawinenforschungsinstitut SLF, sie weiss, was «gefährlich gross» und «sehr mächtig» im Zusammenhang mit Lawinen bedeutet. Zu diesem Frühling sagt sie: «Eine solche Situation mit mächtigen Gleitschneelawinen kam zuletzt im Winter 2011/2012 vor.» Der Grund dafür ist ein anderes Extrem-Ereignis: «die dicke Schneeschicht vom Januar», so Piermeier. Die werde lange vorhalten und die Lawinensaison bis in den Mai verlängern.
Denn Anfang Jahr fiel tonnenweise Weiss vom Himmel. Die Schneemengen in den südwestlichen Alpen erreichten Rekordniveau. Zermatt VS war zeitweise wie durch eine weisse Wand von der Aussenwelt abgeschnitten. «Im Januar hatten wir eine Lawinensituation, wie sie nur alle zehn bis 20 Jahre mal vorkommt», so Lawinenprognostikerin Pielmeier. Bei grossen Lawinenabgängen seien im Januar einige Sachschäden entstanden. Solche massenhaften Abgänge gab es aber nicht zum ersten Mal in der Schweizer Lawinengeschichte.
Räumung der Strasse von Zernez nach Brail im Lawinenwinter 1951.
1950/51 ging bei den Lawinenforschern in die Geschichte ein. Der «Lawinenwinter» sorge für zahllose Schneebretter und Lawinen. Die Schneemassen rissen damals 99 Menschen in den Tod – so viele wie noch, nie seit das Lawineninstitut SLF 1936 begann, die Daten aufzuzeichnen.
Allein im Januar 1951 gingen über 1000 Lawinen nieder, vor allem in Graubünden. Eine schob sich ins Örtchen Vals – verschlang 18 Menschenleben und eine Schadenssumme von 1,3 Millionen Franken.
Viel Neuschnee wie im Januar 1951 und 2018 ist nur einer von vielen Faktoren, die Lawinen begünstigen. Starker Wind etwa kann Triebschnee zusammenfegen, der dann leicht als Schneebrett abrutschen kann. Ausserdem gilt: je steiler ein Hang, desto einfacher können Lawinen abgehen. Wärme und Sonne sind, wie im Fall des Vallon d’Arbi, ein grosser Risikofaktor – aber auch das Gegenteil: Eiseskälte.
«Die ‹russische Eispeitsche› wirkt sich auf die Lawinengefahr aus», sagt SLF-Lawinenprognostikerin Pielmeier. Denn durch die Kältewelle, die im Februar über die Schweiz hinwegwalzte, habe sich der oberflächennahe Schnee in lockeren, zuckerähnlichen Schnee umgewandelt. Hinzu kommt: Oberflächenreif. «Das sind relativ grosse, filigrane Kristalle, die, nachdem sie eingeschneit wurden, brechen und zusammenfallen können wie ein Kartenhaus», erklärt Pielmeier.
So entstehen Schwachschichten im Schnee. Weil es zwischendurch geschneit hat, gibt es nun im oberen Meter der Schneedecke zwei davon. «Da genügt das Gewicht eines Skifahrers, um eine Lawine auszulösen», so Pielmeier. Auf der Website ihres Lawineninstituts heisst es: «Vorsicht vor frischem Triebschnee». Die Warnstufe für weite Teile der Schweizer Alpen ist «erheblich».
Das sei die heikelste Gefahrenstufe für Schneesport abseits der Pisten, sagt Pielmeier. «Die meisten Lawinenunfälle mit Todesopfern geschehen an Tagen mit erheblicher Lawinengefahr.»
Es ist auch jene Stufe, die ausgerufen war, als die Lawine am 16. März im Wallis sechs Menschen verschlang.
Lawinen-Saison 2017/18: Schon mehr als 25 Tote
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