BLICK: Niels Hintermann, wie viele dumme Sprüche musst du dir von deinen Rennfahrer-Kollegen anhören, weil du Zürcher bist?
Niels: In der heutigen Zeit geht es im Skisport nicht mehr um die Herkunft, sondern um die Leistung. Ok, mein Zimmerkollege Marc Gisin macht manchmal augenzwinkernd einen «Anti-Züri»-Spruch. Aber ich weiss zu kontern.
Pitsch: Zu meiner Zeit war die Wahrnehmung der Bergler noch so, dass ein Zürcher dafür da ist, um sein Geld in den Bergen liegen zu lassen. Dass ein Zürcher schneller Ski fährt als sie, kam für einen Innerschweizer, Walliser, Berner Oberländer oder Bündner damals einer Demütigung gleich. Darum haben Leute wie Russi oder Tresch zu mir gesagt, als ich in den 70-er-Jahren neu ins Team gekommen bin: «Geh wieder nach Hause, du gehörst nicht zu uns!»
Niels: Wie hast du darauf reagiert?
Pitsch: Solche Provokationen haben mich noch mehr motiviert und ich habe den Berglern prophezeit, dass ich spätestens in einem Jahr schneller sein werde als sie. Russi hat dann gemeint, dass er an dem Tag, wo er langsamer sei als ich, seinen Rücktritt erklären würde. Bernhard ist dann tatsächlich zurückgetreten, nachdem ich bei der WM in Garmisch Fünfter und er nur 15. wurde. Auch Conradin Cathomen durfte jahrelang nur in der Nacht durch seinen Wohnort Laax laufen, weil er langsamer war als ich. Erst als auch er ordentlich zu trainieren begann, hat dann auch er ein paar Rennen gewonnen ...
Niels, wie sieht dein Trainingsprogramm im Sommer aus?
Niels: Ich war lange alles andere als ein Konditions-Wunder. Doch vor der letzten Saison hat es bei mir klick gemacht. Jetzt arbeite ich im Sommer in Engelberg mit einem sehr guten Konditionstrainer zusammen. In der Saisonvorbereitung trainiere ich von acht bis zwölf Uhr Kraft und Kondition, am Nachmittag kümmere ich mich dann um meine Ausbildung zum Hotel-Kaufmann.
Pitsch: Was, du absolvierst im Sommer nur eine Trainingseinheit? Ich empfehle dir, dass du das schleunigst änderst. Ich kenne nur einen Rennfahrer, der mit einer Trainingseinheit pro Sommertag ein einziges Rennen gewonnen hat. Er heisst Urs Lehmann ...
Niels: Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass ich eines Tages mit dem Skirennsport genug Geld verdienen kann. Deshalb steht meine Ausbildung zurzeit über allem anderen. Im Winter kann ich mich voll aufs Skifahren konzentrieren, aber im Sommer stehe ich nun einmal von 14 Uhr bis Mitternacht hinter der Hotel-Rezeption. Deshalb liegt wirklich nur eine Trainingseinheit drin.
Pitsch: Was hast du vorher gemacht?
Niels: Ich habe mit zehn Jahren das Elternhaus verlassen, um in Schruns-Tschagguns die Ski-Hauptschule zu absolvieren. Das war eine super Zeit. Dummerweise bin ich danach ins Ski-Gymnasium nach Stams, an dem ich mindestens ein Jahr verloren habe.
Pitsch: Warum?
Niels: Stams ist sicher eine Top-Schule, aber meinem Charakter hat sie überhaupt nicht entsprochen. Ich habe mich dort wie in einem Gefängnis gefühlt. Essen, schlafen, trainieren, lernen – sonst nichts. Und da waren damals Top-Stars wie der Skispringer Gregor Schlierenzauer, der mich nie gegrüsst hatte. Es war alles ziemlich asozial.
Pitsch: Ich bekomme langsam aber sicher Probleme mit deiner Einstellung. Schliesslich ist Spitzensport kein Wohlfühl-Institut.
Niels: Ich habe als 14-jähriger Bub das familiäre Umfeld trotzdem benötigt.
Pitsch: Das Familiäre kannst du ja zu Hause haben ...
Niels: Weil ich in Stams ja auch am Samstag Schule hatte, bin ich ja gar nicht mehr nach Hause gekommen. Deshalb habe ich danach an die Sportschule nach Engelberg gewechselt, ab diesem Zeitpunkt habe ich wieder viel mehr heimische Nestwärme gespürt.
Pitsch: Okay. Es muss ja jeder seinen eigenen Weg gehen. Und du hast ja im Dezember 2015 in deinem zweiten Weltcuprennen bereits die ersten Punkte geholt. Das ist beachtlich.
Niels: Danke.
Pitsch: Und wenn du schon so oft in Engelberg bist, können wir im Sommer ja mal gemeinsam zügig auf den Titlis laufen.
Niels: Da bin ich bestimmt dabei, ich freue mich!
Ein Jahr später triumphiert Niels Hintermann sensationell am Lauberhorn. 24 Jahre nach Pitsch Müller verzückt somit der nächste Flachländer die Ski-Nation Schweiz.