Als Nino Niederreiter (23) noch in seinem Elternhaus in Chur sesshaft war, hat er regelmässig zum Calanda und aufs Fürhörnli hinauf geschaut. In seinem jetzigen Wohnort im mittleren Westen der USA sucht man zwar vergeblich nach derart imposanten Bergen. Die Aussicht, die der treffsicherste Schweizer NHL-Spieler in seinem Eigenheim in Minneapolis geniesst, ist trotzdem atemberaubend.
Niederreiter residiert im 16. Stock des «Ivy Hotel» in einem 170 Quadratmeter-Apartment mit der exklusiven Balkon-Sicht auf die spektakuläre Skyline. Dieser Wohnsitz ist bezeichnend für den sportlichen Aufstieg des Bündners, der in der letzten Saison 28 Tore und 14 Assists für die Minnesota Wild produziert hat. Damit hat der Sohn eines Schlossers in der 400 000-Einwohner-City am Ufer des Mississippi seinen American Dream vom Heizungsmonteur-Stift zum Multi-Millionär wahrgemacht.
Nino erzählt mit einem spitzbübischen Lächeln das erste Kapitel seiner aussergewöhnlichen Geschichte: «An meinem ersten Tag an der Berufsschule musste ich in einem Aufsatz meine Erwartungen und Ziele an meine Lehre als Heizungsmonteur formulieren. Ich habe ziemlich böse Blicke vom Lehrer geerntet, weil ich geschrieben habe, dass ich die Ausbildung wohl nicht beenden werde, damit ich voll auf Eishockey setzen kann.»
Und dann? «Am zweiten Schultag habe ich wegen eines U20-Turniers in der Slowakei gefehlt. Und am dritten Schultag habe ich die Lehrbücher abgegeben und dem Direktor ‹ade› gesagt. Zu diesem Zeitpunkt war es klar, dass ich in einer nordamerikanischen Juniorenliga Eishockey spielen kann. Viele haben mich damals für verrückt erklärt, aber jetzt hat es sich gelohnt.»
Niederreiter wird aber nie vergessen, wie hart die ersten Jahre in der Fremde waren: «Mittlerweile fällt mir das Englischsprechen manchmal fast leichter als das Deutsch. Aber am Anfang habe ich kaum ein englisches Wort über die Lippen gebracht. Ich war sehr schüchtern und hatte starkes Heimweh.»
Diese Zeit und die ersten Jahre in der NHL haben ihn abgehärtet: «Der Hierarchie-Gedanke ist bei den meisten NHL-Teams sehr ausgeprägt. Als Rookie musst du nach dem Training die Pucks einsammeln und du darfst im Teamhotel auch nicht denselben Lift benutzen wie die Stars der Mannschaft. Mittlerweile ist mein Status so gut, dass ich mit unserem Team-Captain Mikko Koivu nicht nur Lift fahren darf. Bei unseren Flugreisen darf ich sogar neben ihm sitzen ...»
In der Hitparade der Wild-Fans hat der Schweizer seinen finnischen Team-Leader offensichtlich bereits überholt. Ted, der Verkäufer im grössten Fanshop im Wild-Stadion Xcel Energy Center, reibt seine Hände: «Ninos Trikot mit der Nummer 22 ist in den Charts der verkauften Spielerleibchen die Nummer 2 in unserem Laden. Noch besser läuft einzig das Shirt unseres Vize-Captains Zach Parise.»
An diesem Nachmittag macht «El Nino» ein paar Fans besonders glücklich – er fährt mit seinem weissen Geländewagen in eine Wohnsiedlung in St. Paul, um einer besonders Wild-verrückten Family die Dauerkarte für die kommende Saison zu überreichen. Amanda, die Dame des Einfamilienhäuschens, fällt fast in Ohnmacht, als sie dem prominenten «Briefträger» die Haustüre öffnet: «Oh my God, Niiiinooooo! This is amazing, I can’t believe it!» «The Swiss Goal Machine» nimmt die Frau und deren beiden Enkelkinder in die Arme, spricht ihnen einige herzliche Wort zu und fährt dann zufrieden zurück in die Stadt. «Solche Aktionen bereiten mir sehr viel Spass», sagt Nino.
«Auf diese Weise kann ich unseren tollen Fans etwas zurückgeben. Wir haben hier 16 000 Saisonkartenbesitzer, die bei jedem Heimspiel für eine fantastische Stimmung sorgen. Zudem gibt es für mich kein schöneres Gefühl, als wenn ich jemandem eine Freude machen kann.»
Richtig Freude hat Niederreiter auch, wenn er in Minneapolis die «Mall of America» betritt. «Das ist das grösste Einkaufszentrum Nordamerikas. Wenn man sich in jedem Geschäft der Mall zehn Minuten aufhält, benötigt man 82 Stunden. Ich komme aber weniger wegen den vielen Geschäften, sondern wegen den Achterbahnen und der Minigolf-Anlage hierher.»
Nino agiert beim Putten mit dem Minigolfschläger ähnlich abgebrüht wie vor dem Hockey-Goal. «Obwohl mich hier schon sportliche Schweizer Freunde wie der Spitzenschwinger Christian Schuler herausgefordert haben, bin ich auf dieser Bahn noch ungeschlagen. Mein Rekord liegt bei 36 Schlägen. Zum Vergleich: Schuler hat für die 18 Löcher 51 Schläge benötigt.»
Über alles gesehen kann Niederreiter an seinem Dasein im Bundesstaat Minnesota nur ein Handicap erkennen: «Im Winter wird es hier brutal kalt. Das Thermometer zeigt von November bis Anfangs März regelmässig minus zwanzig bis minus dreissig Grad an.»
In dieser frostigen Zeit erwärmt er sein Herz in seinem Traum-Apartment gerne mit einem Schweizer Klassiker. «Das Raclette-Öfeli war etwas vom ersten, was ich mir gekauft habe, als ich in die USA gezogen bin. Ich bekomme in dieser Stadt sehr guten Käse. Und meine geliebten Oswald-Kräutermischungen nehme ich jeden Sommer aus der Schweiz mit.»
Neben dem Raclette-Öfeli, den Oswald-Kräutern und einer grossen Tafel Lindt-Schoggi erinnert im US-Haushalt des Junggesellen noch etwas anderes an die alte Heimat – neben den Bildern von seinem Lieblingsmaler Paul Peterson hängt ein Foto mit seinen Eltern Ruth und René und den älteren Schwestern Lorena und Romina. «Ich bin in Gedanken immer bei ihnen. Und obwohl mir das Leben in den USA wirklich sehr gut gefällt, werde ich eines Tages in die Schweiz zurückkehren. Ich kann mir gut vorstellen, dass ich noch einmal für den HCD oder für einen Klub wie den SC Bern spiele.»
Vorher will er aber mit Minnesota den Stanley Cup gewinnen. «In den beiden letzten Jahren sind wir immer in der zweiten Playoff-Runde an Chicago gescheitert. Aber ich glaube fest daran, dass unser Team in dieser Saison so stark sein wird, dass wir im Kampf um den Stanley Cup sehr viel weiter kommen werden.»
Das Ziel Stanley Cup hat Nino übrigens jeden Tag vor Augen. «Von meinem Apartment aus sehe ich einen Wolkenkratzer, der die Form vom Stanley Pokal hat. Das treibt mich zusätzlich an ...»
Hol dir den echten Cup in die Wohnung, Nino!