Die vielen kleinen Weihnachtslichter an der Decke verleihen dem Herzzentrum des Universitätsspitals Zürich einen Hauch von Weihnachtsstimmung. An der Tür von Nastassja Gehring baumelt ein zierliches Weihnachtsgeschenk zur Deko. Das viel grössere, schönere Geschenk trägt die junge Mutter seit zehn Tagen in sich. Ihr neues Herz.
Bevor BLICK das Zimmer der 25-Jährigen betreten darf, gibt eine Pflegefachfrau Anweisungen: «Hände desinfizieren. Und wer erkältet ist, muss eine Mundschutzmaske tragen.»
Die Patientin öffnet die Tür. Sie sagt nur «Hallo». Im Ausschnitt ihres Tops ist eine lange Narbe zu sehen. «Ich kann stolz darauf sein. Sie hat mir das Leben gerettet», schrieb die Tessinerin vor kurzem auf Facebook.
Ganz langsam setzt sie sich aufs Bett. Ihre Hände zittern. Sie ist noch immer erschöpft. Doch ihre braunen Augen funkeln: «Ich hatte riesiges Glück. Jetzt habe ich ein neues Leben – ein zweites Leben. Ich habe jetzt viel mehr Luft. Es geht mir jeden Tag besser.»
Kann dem Spender nicht genug danken
Sie ist tief beeindruckt, dass ein fremdes Herz in ihr weiterlebt. «Es vergeht kein Tag, an dem ich dem Spender nicht dafür danke.»
Die Tessinerin erzählt, wie sie am Vorabend der Operation eine Wunschkarte schrieb und sie auf einem Weihnachtsmarkt an den Christbaum hing.
Gehring glaubt nicht an Zauberei «oder solche Sachen, aber am Tag danach» sei der erlösende Anruf von der Organspende-Organisation Swiss Transplant gekommen: Ein passendes Herz sei da. «Dass mein Wunsch so schnell in Erfüllung geht, hätte ich nie gedacht!»
Wer ist der Spender?
Aber sie fragt sich: «Wer ist der Spender? War es ein Mann? War es eine Frau? Welche Musik hörte er?» Das Transplantationsgesetz verbietet, dass der Empfänger eines Organs den Namen des Spenders erfährt – und umgekehrt.
Sie will jetzt einen Brief schreiben und ihn Swiss Transplant zum Weiterleiten übergeben. «Die Familie hat einen jungen Angehörigen verloren; mein Sohn Aaron hat eine richtige Mutter bekommen. Ich will der Familie etwas geben. Aaron wird ein Bild für sie malen.» Dass der Dreijährige Talent hat, beweist ein Bild an der Wand des Krankenzimmers.
Ausser einem Fernseher, einem Bett und vielen medizinischen Apparaten gibt es hier sonst nichts. Auch keinen anderen Patienten. «Sie muss alleine sein», sagt Markus Wilhelm, Herzchirurg und Spezialist für Herztransplantationen. «Ihr Immunsystem ist geschwächt.»
Auch die Medikamente, die Gehring ein Leben lang nehmen muss, rauben ihr Kraft. «Das muss so sein. Damit der Körper das fremde Herz nicht abstösst», erklärt Wilhelm.
«Ich will einen Marathon laufen»
Gehring sagt ihrem neuen Herzen jeden Tag: «Wir schaffen das. Zusammen. Schlag für Schlag!» Ab jetzt darf sie zwei Mal im Jahr Geburtstag feiern, ein gutes Leben beginnen, wieder arbeiten gehen und viel Sport machen. Sie lacht: «Ich will einen Marathon laufen.»
Der Physiotherapeut kommt. Heute darf die Tessinerin zum ersten Mal aufs Elektrovelo. Am Vortag war sie schon im Treppenhaus auf- und abgestiegen: «Ich will viel trainieren, weil ich schnell aus dem Spital rauswill», sagt Nastassja Gehring.
«Das grösste Weihnachtsgeschenk ist mein neues Herz.»
Zu Hause wartet ihr Partner auf sie – und Aaron: «Ich vermisse meinen Buben sehr. Das ist das Schlimmste für mich.» Sie seufzt. «So lange war ich noch nie von ihm getrennt!» Aaron habe sie bis jetzt nicht besuchen dürfen. Er ist erkältet. Am Samstag darf er endlich kommen.
Weihnachten wird die kleine Familie noch im Spital feiern. Einige Geschenke sind schon da. Aber: «Das grösste Weihnachtsgeschenk ist mein neues Herz.»