Über 100’000 offene Fälle
Schweizer Justiz ist am Anschlag

Die Aktenberge türmen sich: In der Schweiz gibt es zu viele Verfahren – und zu wenige Strafverfolger. Einige Verfahren dauern so lange, dass Schuldige gar nicht bestraft werden.
Publiziert: 24.07.2023 um 05:27 Uhr
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Aktualisiert: 26.07.2023 um 08:29 Uhr
Bis ein Beschuldigter vor Gericht erscheinen muss, kann es Jahre dauern (Symbolbild).
Foto: Philippe Rossier

Bei den Schweizer Strafverfolgungsbehörden fehlt es an Personal. Das sorgt dafür, dass sich viele Strafverfahren in die Länge ziehen. Solange, bis einige Straftaten verjährt sind.

Die Zeitungen von Tamedia haben bei den Staatsanwaltschaften der Kantone nachgefragt. Diese verzeichneten im letzten Jahr 545’546 neue Fälle – offen davon: 113’064. Allein im Kanton Zürich waren zuletzt mehr als 10’000 Fälle offen, ebenso in Genf oder im Aargau.

Mann musste 14 Jahre auf Gerichtsverhandlung warten

Der Zürcher Strafverteidiger Thomas Fingerhuth sagt zum «Tages-Anzeiger»: «Es ist im Moment dramatisch, wirklich dramatisch.» Das System stehe vor dem Kollaps. Er habe kürzlich einen Mann verteidigt, der 14 Jahre warten musste, bis ein Gericht seinen Fall anschaute.

Der Personalmangel trifft dabei nicht nur Staatsanwaltschaften, sondern auch die Riege der Polizistinnen, Gerichtsmediziner, Gutachter oder Richterinnen. Die Zeitung berichtet, dass dabei Fälle über Jahre liegen bleiben und damit das Vertrauen der Opfer in die Justiz erschüttern. Zum Beispiel bei sexuellen Übergriffen.

«Unhaltbarer Zustand»

Christoph Ill, erster Staatsanwalt im Kanton St. Gallen, sagt, dass bei einem schweren Sexualdelikt die Wahrscheinlichkeit heute hoch sei, dass es nach vier Jahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen sei. Und werde der Fall weitergezogen, könne es sein, dass das Opfer nach vier Jahren vor einer zweiten Instanz aussagen müsse. Er sagt zum «Tages-Anzeiger»: «Offensichtlich, dass dies ein unhaltbarer Zustand ist.»

Eigentlich gilt in der Schweiz das Beschleunigungsgebot. Strafbehörden müssen Ermittlungen laut Gesetz «unverzüglich» in Angriff nehmen. Geschieht dies aus Überlastung nicht, kann das für Täter mildere Strafen bedeuten, wenn diese mehrere Jahre auf ein Urteil warten müssen. Dies geschah in mehreren Fällen, wie Urteile zeigen.

Der Präsident der Staatsanwälte-Konferenz, Michel-André Fels, fordert nun, dass die prekäre Situation analysiert und aufgrund der Erkenntnisse gehandelt werden müsse. (neo)

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