Sek-Schüler Jamal und Ali müssen sich von Lehrern rassistische Sprüche anhören
«Wir wollen wie andere Schüler behandelt werden»

Jamal* und Ali* aus Afghanistan werden in der Schule abgesondert und müssen sich rassistische Sprüche anhören – von den Lehrern. Ali verlor deshalb sogar den Lebensmut.
Publiziert: 08.04.2018 um 03:45 Uhr
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Aktualisiert: 08.10.2018 um 11:53 Uhr
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Die afghanischen Flüchtlinge Jamal (17) und Ali (20) wollen von ihren Lehrern in der Sekundarschule ganz normal behandelt werden.
Foto: Philippe Rossier
Aline Wüst (Text) und Philippe Rossier (Fotos)

In der Schweiz glaubten die Brüder Jamal (17) und Ali (20) zu finden, was es in Afghanistan nicht gibt: eine Welt, in der alle Menschen – egal welcher Hautfarbe, Religion oder Nationalität – gleich viel wert sind. Aber so war es nicht.

Als sie im Oktober 2015 die Schweiz erreichten, sassen sie oft bis nach Mitternacht über ihren Büchern und lernten Deutsch. Bald durften sie eine Sekundarschule im Kanton Baselland besuchen, fanden dort auch schnell neue Freunde. Was sie von den Mitschülern unterschied, war ihr Alter – und ihre Vergangenheit.

Jamal und Ali, Söhne eines Polizeioffiziers, waren von den aufständischen Taliban gefoltert worden. Alis gebrochene Arme waren nur schlecht verheilt und mussten mehrmals operiert werden. Jamal erlitt Schnittverletzungen an den Beinen.

Kein Lebenszeichen vom Vater

Bei ihrer Flucht wurde die Familie auseinandergerissen. Die Brüder wissen nicht, wo ihre Mutter und die beiden jüngeren Geschwister sind – nicht einmal, ob sie noch leben. Auch vom Vater, der in Afghanistan geblieben ist, gibt es kein Lebenszeichen.

Letzten Donnerstag: Die jungen Männer sitzen an einem Tisch. Sie sprechen untereinander Deutsch, korrigieren gegenseitig ihre Grammatikfehler. Ali hatte im letzten Zeugnis einen Notendurchschnitt von 5,0 und Jamal sogar 5,3. Ihre Wohnung ist für eine Jungs-WG vorbildlich aufgeräumt. Ein neues Leben wollten sie hier beginnen, ein ganz normales, erzählen sie. Steuern zahlen, finanziell unabhängig sein, irgendwann eine Familie gründen. Das war ihr Traum, sagt Ali scheu. Sie sind auf dem besten Weg: Jamal hat eine Lehrstelle als Produk­tionsmechaniker. Ali möchte Fachangestellter Gesundheit werden. Er hat drei Zusagen für Praktikumsplätze.

Und doch sind die Brüder verzweifelt. Fürchten sich vor den drei Monaten Schule, die bis zu den Sommerferien noch vor ihnen liegen.
Der Grund sind nicht die Kameraden, sondern zwei Lehrer. Die beiden jungen Afghanen geben eine kleine Auswahl dessen wieder, was sie seit Monaten Tag für Tag erleben: Einer der Lehrer steht vor der Klasse und sagt, dass Steuern bezahlt werden, damit Jamal und Ali zum Coiffeur gehen oder Kleider kaufen können. Dann fragt er die Klasse wie zufällig: «Wer von euch ist rassistisch?»

Wie jeden Tag ein bisschen sterben

Der andere Lehrer beantwortet die Fragen der Brüder nicht und verbietet ihnen, Klassenkameraden um Antworten zu bitten. Er reisst den beiden in der Pause die Englischhefte aus der Hand, als sie Kollegen wegen Hausaufgaben um Rat fragen. In der nachfolgenden Stunde projiziert er die unfertigen Hausaufgaben mit dem Hellraumprojektor an die Wand und macht sich darüber lustig.

Der andere Lehrer setzt Jamal und Ali von den anderen abgesondert an ein Pult. Er bezichtigt Jamal, beim Migrationsamt über sein Alter gelogen zu haben. Gibt beiden bei Prüfungen wiederholt zu wenige Punkte und korrigiert die Note erst auf Nachfrage. Oder er verspricht denen Schokolade, die eine Aufgabe als Erste gelöst haben – und obwohl es die Brüder sind, wartet er, bis zwei andere Schüler die Aufgabe erle­digen. Diese bekommen die Schokolade. Die ständigen Schikanen seien wie jeden Tag ein bisschen sterben, sagt Jamal. Wiederholt melden sich die beiden beim Schulleiter. Nichts passiert. Sie wissen nicht mehr weiter. Jamal plagen immer öfter Suizidgedanken.

Die Hoffnung verloren

Die Wohnung, in der die Brüder wohnen, gehört Dora und Alfred M.** Sie wohnen im gleichen Haus. Ab und zu essen alle gemeinsam. Zuerst nur am Rande, dann immer häufiger bekommt das Ehepaar mit, wie verzweifelt die Flüchtlinge sind. Denn lange erzählten sie nichts. «Wir wollten nicht, dass ihr traurig seid», erklären sie Alfred und Dora M. später.

Irgendwann bricht es aus ihnen heraus. Das Ehepaar versucht, ihnen Mut zu machen, und überzeugt sie davon, einen Arzt aufzusuchen. Der sagt, Jamal und Ali bräuchten keine Medika­mente, sondern Menschen, die nett zu ihnen sind.

Das Ehepaar organisiert ein Gespräch mit der Schule. «Die beiden sollen doch ohne Angst in den Unterricht gehen können. Diese Schikane muss aufhören!»

Das Gespräch fand Anfang Woche statt. Mit am Tisch: Schulleitung, Schulratspräsidentin und Schulsozialarbeiterin. Die zwei Lehrer sind nicht gekommen. Auf Anfrage sagt die Vizepräsidentin des Schulrats zu SonntagsBlick einzig, dass die Anliegen der Brüder intern abgeklärt würden.
Doch Jamal und Ali haben die Hoffnung verloren, dass sich etwas verbessern wird. Sie haben Angst, am Montag wieder zur Schule zu gehen.
Was sie sich wünschen? Nicht dass die Lehrer zu ihnen wie Väter sind, sagen sie. Bloss, dass sie gleich behandelt werden wie alle anderen Schüler.

*Namen geändert

**Namen der Redaktion bekannt

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