Dass die jüngste Episode im Schweizer Politik-Thriller das Publikum kaum aus den Socken hauen würde, hätte den Journalistinnen und Journalisten spätestens bei der Bekanntgabe des Themas dämmern müssen: «Umsetzung Pflege-Initiative 2. Etappe». Darüber wollte Bundespräsident Alain Berset (50, SP) reden bei seinem ersten Auftritt vor den Medien seit Bekanntwerden der Corona-Leaks. Dabei interessierte auch an diesem Mittwochnachmittag vor allem eine Frage: Hatte Berset Kenntnis von den zahlreichen Indiskretionen, mit denen sein ehemaliger Kommunikationschef Peter Lauener (52) den CEO des Ringier-Verlags fütterte, bei dem auch der SonntagsBlick erscheint?
Doch statt eines Showdowns gab es eine Beruhigungspille, verabreicht von Bundesratssprecher André Simonazzi (54). Er verlas ein Communiqué, das nur knapp auf die Vorgänge in der Bundesratssitzung einging, die wenige Stunden zuvor stattgefunden hatte. Alain Berset sei zunächst in den Ausstand getreten und habe dann dem Gremium versichert, keine Kenntnisse von den Indiskretionen gehabt zu haben, diktierte Simonazzi der versammelten Presse trocken. «Der Bundesrat will die Geschäfte auf der Grundlage des wiederhergestellten Vertrauens weiterführen.» Berset selbst äusserte sich nicht weiter zur Sache, der Ball liege nun bei der Geschäftsprüfungskommission des Parlaments, deren Arbeit er unterstütze.
Wir haben den Laden im Griff, lautete also die Botschaft. Was im Bundesratssitzungszimmer passiert, bleibt im Bundesratssitzungszimmer.
Das Problem – und gleichzeitig die Stärke – der Schweiz: Es existiert kein Personenkult. Washington ist nicht Bern. Während im Weissen Haus die Konterfeis sämtlicher US-Präsidenten von den Wänden grüssen, hängen in den Schweizer Parlamentssälen ein grosses Landschaftsbild und eine Szene einer Landsgemeinde. Natürlich ist das gewollt: Einzelmasken spielen in der Eidgenossenschaft keine Rolle. Und über allem schwebt der Geist des Kollegialitätsprinzips.
Von einer institutionellen Krise, wie sie etwa SVP-Präsident Marco Chiesa (48) seit Tagen heraufbeschwört, will man in Bern nichts wissen. Gerade der wortkarge Auftritt Bersets unterstreiche, dass von einer Dysfunktionalität kaum die Rede sein könne, sagt etwa Politologe Marc Bühlmann (52) von der Uni Bern. «Hier wurde viel eher eine Mücke zum Elefanten gemacht.» Das politische System habe reagiert, wie es in solchen Situationen immer reagiere: als Kollektiv.
Dass die Geschäftsprüfungskommissionen des National- und des Ständerats letzte Woche eine Subgruppe bildeten, um die Indiskretionen aus sämtlichen Departementen zu untersuchen, und nicht etwa die mit mehr Kompetenzen ausgestattete Geschäftsprüfungsdelegation mit dieser Aufgabe betrauten, ist für Politologe Bühlmann ein Indiz dafür, dass man auch im Parlament nicht wirklich an eine Staatsaffäre glaubt. «Man will natürlich nicht untätig bleiben, weiss aber ebenso, dass dieser Sturm im Wasserglas bald verebben wird.»
Ist die Landesregierung kein eingeschworenes Team?
Es sei an sich kein Problem, sagt Lukas Golder (48), Co-Leiter beim Forschungszentrum GFS Bern, dass ein Departementsvorsteher innerhalb des Gremiums und gegen aussen seine Säule verteidigen und für eine möglichst vorteilhafte politische Konstellation bezüglich seiner Geschäfte sorgen möchte. «Indiskretionen schaden zwar der Konkordanz und der Zusammenarbeit innerhalb der Regierung. Als Schmierstoff wurden sie aber immer schon eingesetzt.» Dabei gehe es nicht darum, andere in die Defensive zu zwingen, sondern vielmehr darum, Verständnis zu schaffen für bevorstehende Entscheide. «Während der Pandemie dienten die Indiskretionen einer Vorvernehmlassung», glaubt Golder. Man wollte damit herausfinden, ob die Bevölkerung gewisse Massnahmen mittragen würde.
Indiskretionen, wie sie jetzt dem ehemaligen Kommunikationschef des Innendepartements vorgeworfen werden, haben laut Lukas Golder nicht das Zeug dazu, die verfassungsmässige Ordnung der Schweiz zu gefährden. Sie gehören zum Spiel, wie es ebenso zum Spiel gehört, sie zu verurteilen. Extrem delikat und inhaltlich giftig wäre ein Leck zum Beispiel dann, wenn es dazu dienen würde, vor einem wichtigen Personalentscheid eine Kandidatin oder einen Kandidaten für den Posten via Medien anzuschwärzen oder Geheimdienstinformationen anderer Geheimdienste zu veröffentlichen. «Die Weitergabe solcher Informationen und deren Publikation wären dann nicht nur illegal, sondern unmittelbar gefährlich», sagt Golder.
Weniger optimistisch als die beiden Politologen beobachtet der Luzerner alt Regierungsrat Ulrich Fässler (79, FDP) die Geschehnisse. Der Berset-Fall sei ein Symptom für die Probleme im Bundesrat, sagt der Rechtsanwalt: «Wäre die Landesregierung ein eingeschworenes Team, gäbe es weniger Schwierigkeiten.»
Fässler hatte während seiner Zeit als Exekutivpolitiker mit der Luzerner Regierung eine umfangreiche Reform durchgeführt. Unter anderem wurde die Zahl der Mitglieder von sieben auf fünf reduziert. Eine kleine, aber ziemlich wirksame Änderung betraf auch die Einrichtung des Regierungszimmers. Fässler stellte einen grossen Tisch in den Raum, damit sich die Politikerinnen und Politiker aus der Nähe in die Augen schauen mussten.
Später bekam Fässler vom damaligen Bundesrat Hans-Rudolf Merz (80, FDP) den Auftrag, als Projektleiter die Verwaltungsreform des Bundes voranzutreiben. Als Fässler seine Reformvorschläge ausgebreitet hatte, die explizit den Bundesrat betrafen, zog Merz dem Vorhaben den Stecker – offenbar hatte man plötzlich Angst vor dem eigenen Mut.
Heute funktioniere der Bundesrat immer noch wie damals, meint Fässler. Jeder und jede vertrete in erster Linie das Departement, dem sie oder er vorstehe. Und statt an einem offenen Tisch, wie ihn jedes moderne Führungsgremium kenne, würden sich die Bundesrätinnen und Bundesräte nach wie vor hinter sieben Pulten aus dem Jahr 1889 verstecken.
Die enge Sicht aufs eigene Departement sei Gift für das Kollegialitätsprinzip und verkompliziere das Regieren, sagt Fässler. Er ist überzeugt: «Eine nachhaltige Regierungsreform mit einer Entlastung der Bundesrätinnen und Bundesräte im departementalen Bereich würde den Bundesrat stärken und Probleme wie Indiskretionen vermindern.»