Kahsay Mebrahtom (33) sitzt auf dem grünen Sofa einer Flüchtlingsunterkunft in Zuchwil SO und kann es noch immer nicht glauben: Seine Schwester, ihr Mann und die beiden Kinder sind weg – für immer. Die Familie, mit der er so viel Zeit verbrachte, sein Anker in der fremden Stadt Solothurn, ist nicht mehr.
Fkadu Mebrathom war seine Schwester. Die 24-jährige Mutter kam bei der Brandkatastrophe Ende November in Solothurn ums Leben – mit ihr die Kinder Fortuna (6) und Lydia-Novela (5). Auch Kahsays Schwager Merhawi (32) fand den Tod. Sie erstickten im dichten Rauch, der durch einen Brand im Erdgeschoss entstanden war, da sie nicht flüchten konnten.
«Wäre ich an dem Tag nicht krank gewesen, wäre auch ich gestorben», sagt Mebrahtom, um Fassung ringend. Oft besuchte er die Familie seiner Schwester, schlief sogar häufig in der Dreieinhalbzimmerwohnung im Dachgeschoss der Wengistrasse 40. «Nur an diesem Sonntag fühlte ich mich nicht wohl, war krank.»
Keine Spur von seiner Familie
Auch die Kinder gingen an diesem Sonntagabend früh schlafen, da sie am nächsten Tag in die Schule mussten. Statt in der Wohnung seiner Schwester zu übernachten, ging er deshalb ausnahmsweise nach Hause, in den Solothurner Vorort Zuchwil.
Hier, in einem alten Bauernhaus, wo er eine bescheidene Bleibe mit mehreren Flüchtlingen teilt, erreichte ihn am nächsten Tag eine Nachricht, die ihn mit Angst erfüllte: «Ein Bekannter rief mich an und sagte mir, dass es im Haus meiner Schwester gebrannt hat.» Er fuhr sofort hin.
Dutzende Schaulustige, Feuerwehr, Polizei und Nachbarn standen vor der Brandruine. Von seiner Familie keine Spur.
Dann kam der Anruf der Polizei
Mebrahtom erfuhr zwar, dass bei dem Feuer viele Menschen ums Leben gekommen waren, auch Kinder. Doch er hatte noch Hoffnung. Denn die Wohnung seiner Schwester im obersten Stock schien unversehrt. Er fragte Polizisten, aber die konnten ihm nicht weiterhelfen.
Also ging er ins Spital, wo mehrere Verletzte eingeliefert worden waren. Es waren die Kinder der äthiopischen Nachbarsfamilie.
Drei quälend lange Tage irrte Mebrahtom auf der Suche nach Fkadu und ihrer Familie umher – und übernachtete sogar im Spital. Schliesslich, am Mittwoch nach dem Brand, rief die Polizei bei ihm an. Er solle auf den Posten kommen. Dort erreichte ihn die niederschmetternde Nachricht.
Die Mutter wohnt noch immer im gleichen Dorf in Eritrea
Vier Wochen sind seitdem vergangen. Die Toten wurden mittlerweile in ihr Heimatland Eritrea überführt.
Kahsay Mebrahtom hätte seine Schwester und ihre Familie gern begleitet. Doch das gelang ihm wegen fehlender Papiere nicht. Sie traten ihre letzte Reise alleine an.
Fkadu war mit ihrer Mutter, mit dem Bruder Kahsay und einer Schwester in dem Dorf Kelaybe Altet aufgewachsen. Ihr Vater verstarb früh, die Mutter lebt mit Kahsays und Fkadus Schwester weiter dort. Sie sind Selbstversorgerinnen. Kahsay: «Wir hatten Kühe, Ziegen und im Garten pflanzten wir Mais an.» Wie Hunderttausende Landsleute flüchtete er 2006 aus Eritrea, um dem jahrelangen Militärdienst zu entgehen.
Seinem Schwager drohte sie Ausschaffung
Sein Ziel Europa erreichte er erst nach einer neunjährigen Odyssee durch den afrikanischen Kontinent und den Nahen Osten – über die Stationen Ägypten, Israel, Türkei, Ruanda, Uganda, Sudan, Libyen und schliesslich Schweiz.
Seine Frau und sein Sohn wohnen in Zürich. Sie leben getrennt von ihm, da sie ihre kirchliche Ehe nicht in einem Schweizer Zivilregister eintragen konnten: «Mir fehlen die nötigend Papiere», erklärt Mebrahtom. Seine Schwester war erst nach ihm geflüchtet, aber vor ihm in der Schweiz angekommen. Sie galt als vorläufig aufgenommene Ausländerin. Ihr Mann Merhawi hatte einen Wegweisungsbescheid. Ihm drohte die Ausschaffung.
«Die Schweizer sind gut zu mir, dafür möchte ich mich bedanken», betont Kahsay, dann füllen sich seine Augen mit Tränen, er verbirgt sein Gesicht in den Händen.
Dann sagt er: «Meine Schwester und ihre Familie sind jetzt im Himmel.»