Geologie
Was die Bohrkerne der Nagra über die Schweizer Geologie erzählen

Um ein sicheres Endlager für radioaktive Abfälle zu bestimmen, hat die Nagra während drei Jahren die Nordschweiz durchlöchert. Tausende Bohrkerne, aufbewahrt in einer Lagerhalle in Würenlingen AG, erlauben eine geologische Reise durch Raum und Zeit. Ein Augenschein.
Publiziert: 17.01.2022 um 09:28 Uhr
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Aktualisiert: 17.01.2022 um 11:05 Uhr
Rund 1000 Kisten mit je einem Meter langen Bohrkernen liegen im Kernzwischenlager der Nagra.
Foto: GAETAN BALLY
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Auf Klapptischen, in schmalen Holzkisten verpackt liegen die Schätze der Tiefenlagersuche der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra). Neun Löcher, bis zu 1300 Meter tief, haben die Forschenden in den letzten fast drei Jahren in den potenziellen Standortgebieten für ein geologisches Tiefenlager (Jura Ost, Nördlich Lägern und Zürich Nordost) in den Boden gebohrt. Die Ausbeute: mehr als sechs Kilometer Bohrkerne, jeweils unterarmdick und rund einen Meter lang.

Geologische Prozesse über 200 Millionen Jahre

Die Geschichte der dunkelgrauen, braunen, roten und grünen Kerne reicht 200 Millionen Jahre zurück in die Vergangenheit - in eine Zeit, in der die Schweiz über Jahrmillionen von einem warmen, seichten Meer überflutet war.

Viele Bohrkerne in den Kisten sind durchtrennt, ihnen fehlt ein rund zehn Zentimeter langes Stückchen. Etwa 5000 solcher Proben wurden entnommen, um die Fossilien, Mineralien, Pollen, Mikro-Brüche oder das eingeschlossene Wasser zu analysieren. «Dies alles gibt Auskunft über die damals herrschenden klimatischen und paläogeographischen Verhältnisse und die geologischen Prozesse», sagt Matthias Braun, promovierter Geologe und CEO der Nagra während eines Besuchs vor Ort.

Seltenes Fossil bei Beohrungen entdeckt

Die Geologie der Schweiz ist zwar äusserst detailliert untersucht. Und doch schlummern im Untergrund noch Überraschungen. So durchbohrten die Forschenden erst vergangenen Herbst im Standortgebiet Nördlich Lägern in 915 Metern Tiefe ein ausgestorbenes Krokodil - einen Pelagosaurus, was so viel bedeutet wie «Eidechse des offenen Meeres».

Eingeschlossen war das äusserst seltene Fossil in der Staffeleggformation, laut Experten der Nagra könnte es sich um das erste dieser Art in der Schweiz handeln. In Deutschland gab es bereits solche Funde in einer entsprechenden Gesteinsschicht. «Der Schweizer Fund erlaubt uns nun, den Verlauf dieser geologischen Formation viel genauer nachzuzeichnen», sagt Braun.

Tonhaltige Gesteinsschicht lässt nichts entweichen

Es ist diese Detailtreue, die die bestmögliche Sicherheit während der gesamten Einschlusszeit des Atommülls gewähren soll. In mehreren hundert Meter Tiefe, geschützt vor Erosion oder Gletschern der nächsten Eiszeit.

Die wichtigste Sicherheitsbarriere ist die dunkelgraue, tonhaltige Gesteinsschicht: Der Opalinuston. Der versteinerte feine Tonschlamm, einst abgelagert am Meeresboden, ist enorm wasserdicht, schluckt strahlende Teilchen quasi, sodass sie nicht entweichen können und schliesst zudem Risse innert Wochen von selbst.

«Selbstheilungskräfte», nennt der Geologe Braun die Eigenschaft und deutet auf einen Opalinuston-Bohrkern aus Stadel-2, einem Bohrungsstandort von Nördlich Lägern. Eingeschlossen im Kern ist ein etwa Fünfliber-grosser Ammonit - ein Leioceras opalinum, der dem Gestein seinen Namen gab.

Doch die Nagra interessiert sich nicht nur für den Opalinuston, sondern auch für die darunter- und die darüber liegenden Gesteine. Diese sogenannten «Rahmengesteine» sind nicht ganz so undurchlässig wie der Opalinuston, weil der Tongehalt niedriger ist. Aber Untersuchungen zeigen, dass Wasser äusserst langsam durch diese Mergel-, Kalk- und Sandstein-Schichten fliesst.

Korallenriff in der Nordwestschweiz

Auf ein besonderes Beispiel eines solchen Rahmengesteins lässt sich im Bohrkernlager ein Blick erhaschen: Ein zusammengebrochenes Korallenriff. Das versteinerte Riff ist etwa 180 Millionen Jahre alt und erstreckte sich über bis zu fünf Quadratkilometer in der heutigen Nordwestschweiz.

Standortwahl folgt im Herbst

Voraussichtlich Mitte März wird sich ein Bohrer zum letzten Mal im Dienste der Endlagersuche in den Boden fressen. Im Herbst dann wird die Nagra darlegen, auf welchen Standort ihre Wahl gefallen ist.

Ob es bereits einen Favoriten gebe? «Jeder hat einen Favoriten, der Geophysiker, die Strukturgeologin, der Lithostratigraphie-Experte», sagt Braun. Alle Gebiete verfügen über eine etwa 110 Meter mächtige Opalinuston-Schicht, die allerdings nicht überall gleich tief liegt.

Auch die Gesteinsschichten ober- und unterhalb des Opalinustons unterscheiden sich. Nun gehe es darum, die verschiedenen Aspekte zusammenzubringen und einen Konsens zwischen den Fachleuten zu finden, um den besten Standort auszuwählen.

Er betont aber auch: «Alle drei Gebiete sind hervorragend.» Die gesetzlich geforderten Werte für die Strahlenbelastung an der Oberfläche eines Endlagers betrage 0,1 Millisievert pro Jahr. Beim Opalinuston rechne man mit 0,0001 Millisievert, was einem tausendmal geringeren Wert entspreche.

«Es ist wirklich ein Super-Gestein», so Braun. Zum Vergleich: Die natürliche Strahlenbelastung in der Schweiz, verursacht beispielsweise durch die lokale Geologie oder Reststrahlung des Reaktorunfalls in Tschernobyl, beträgt rund 5,8 Millisievert.

Die Bohrkerne indessen sollen auch nach dem endgültigen Entscheid nicht entsorgt werden, sondern vorerst im Kernlager der Nagra in Mellingen und im Kernlager des Bundes archiviert werden. Denn der Schatz sei zu wertvoll um ihn wie den Atommüll endzulagern, sowohl für weitere Forschung als auch für die Ausbildung von Studentinnen und Studenten.

(SDA)

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