Jürg Jegge soll im Kanton Zürich über Jahrzehnte Schüler missbraucht haben. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie von der Geschichte hörten?
Silvia Steiner: Mein erster Gedanke war, dass auch für Herrn Jegge die Unschuldsvermutung gilt. Und dass es schwierig wird, die Vorwürfe zu verifizieren.
Da sprechen Sie aus Ihrer Erfahrung als ehemalige Staatsanwältin. Was dachten Sie als Bildungsdirektorin des Kantons Zürich?
Wir nehmen die Sache sehr ernst und haben sofort interne Abklärungen getroffen. Bei der Bildungsdirektion waren zu keinem Zeitpunkt Missbrauchsvorwürfe gegen Jürg Jegge aktenkundig.
Gestern gestand er seine Taten. Was heisst das nun für Sie?
Auch wenn die mutmasslichen Taten Jegges gegen Markus Zangger juristisch verjährt sind, werden wir der Sache nachgehen. Das waren Kinder und Jugendliche, die in der Obhut der Schule waren. Wir haben hier auch eine moralische Verantwortung.
Weshalb wollen Sie nach so vielen Jahren eine Untersuchung?
Kindsmissbrauch ist ein sensibler Bereich, da brauchen die Opfer manchmal Jahrzehnte, um sich zu öffnen. Gerade wenn das Abhängigkeitsverhältnis zum Täter fortdauert, sind Missbrauchsopfer oft zum Schweigen gezwungen und haben auch im Erwachsenenalter kaum Handlungsspielraum. Diesem Umstand müssen wir als Gesellschaft Rechnung tragen.
Auch dass die Sensibilisierung für pädosexuelle Übergriffe in den 70er-Jahren gering war, macht die Sache schwierig.
Die Sensibilisierung spielt erst eine Rolle, wenn sich ein Opfer öffnet und über sein Leid spricht. Heute hören wir bei solchen Hinweisen zum Glück hin und klären den Sachverhalt ab. In den 70er-Jahren war man eher geneigt zu sagen: Das glauben wir nicht.
Haben sich bei der Bildungsdirektion weitere Opfer gemeldet?
Uns sind keine bekannt. Wir sind auch keine Strafbehörde, aber wir sind mit den Strafuntersuchungsbehörden diesbezüglich in Kontakt.
Die Unverjährbarkeits-Initiative wurde vom Volk angenommen. Wieso sind eigentlich rückwirkend trotzdem keine strafrechtlichen Untersuchungen möglich?
Die neuen Verjährungsfristen traten erst später in Kraft. Nach meiner Rechnung sind alle Fälle vor 1987 strafrechtlich verjährt. Aber unabhängig vom Fall Jegge: In Fällen von sexuellem Übergriff müssen Opfer ein Recht auf Aufarbeitung haben. Das ist für sie enorm wichtig, selbst wenn die Tat 30, 40 Jahre zurückliegt. Wir sahen das ja auch bei den Verdingkindern. Nochmals: Wir haben hier eine moralische Verpflichtung. Nur so ermöglichen wir den Opfern, mit der erfahrenen Ungerechtigkeit umzugehen.
Solche Untersuchungen gab es in Deutschland zum Beispiel bei den Missbrauchsfällen an der Odenwaldschule.
Ganz genau. Wir prüfen jetzt, wie wir das angehen wollen. Aber wir wollen diese Aufarbeitung sorgfältig machen, im Interesse aller Beteiligten. Das braucht Zeit.
Wie sorgen Sie dafür, dass an den Schulen in Zukunft kein Missbrauch mehr stattfindet?
Wir sind im Kanton ausgesprochen streng. Lehrer müssen bei Vorstellungsgesprächen einen aktuellen Strafregisterauszug vorlegen, vor der Anstellung einen Sonderprivatauszug, auf dem allfällige Missbrauchsfälle notiert sind. Wenn ein Lehrer aus Deutschland kommt, verlangen wir ein erweitertes Führungszeugnis. Es herrscht Nulltoleranz.
Derzeit stehen im Kanton Zürich 38 Lehrpersonen auf der schwarzen Liste, in Basel keine einzige. Da gibt es kantonale Unterschiede.
Zu den anderen Kantonen kann ich mich nicht äussern. Mir ist wichtig, dass wir in Zürich strenge Richtlinien haben.
Wie viele Lehrer stehen schweizweit auf der schwarzen Liste?
Dazu kann ich Ihnen keine Auskunft geben.