Das Grossmünster in Zürich ist die erste und einzige Kirche der Schweiz, die ihre Besucherzahlen exakt belegen kann: 553'580 Menschen waren es 2015, 1516 pro Tag. So meldet es jedenfalls der Zähler an der Lichtschranke. Das Kunsthaus – nicht weit davon – bringt es auch in einem guten Jahr mit seinen opulenten Ausstellungen nur auf rund die Hälfte.
«Ich will wissen, wer in meine Kirche kommt», erklärt Christoph Sigrist, Grossmünsterpfarrer und Theologie-Dozent an der Universität Bern. Erste Erkenntnis: Es kommen weit mehr Menschen als landläufig vermutet. «Doppelt so viele, wie ich vorher geschätzt hatte.» Und: Es sind nicht nur die Feiertagsgottesdienste zu Ostern und Weihnachten, die das Kirchenschiff mit seinen bis zu 1500 Plätzen füllen.
Freitag bis Sonntag sind mit bis zu 4000 Besuchern täglich zwar immer noch die Spitzentage. Aber, so Pfarrer Sigrist weiter: «Es gibt eine Nutzungsverschiebung, weg vom Sonntag, hin zum Werktag.» Während der Woche registriert er vor allem über Mittag und am Abend stets grösseren Besucherandrang. Dabei begrüsst er nicht nur Protestanten, sondern «ganz einfach Menschen, die einen Ort für ein Gebet, eine Andacht oder eine geistige Entspannung suchen». So traf Sig-rist im Grossmünster einmal einen Muslim an, der seinen Gebetsteppich zum Freitagsgebet ausgerollt hatte. «Ein Secondo, ein Banker aus der Nähe. Er erklärte mir, er habe leider keine Zeit, zur Moschee zu fahren – und bat um Gastrecht, das ich ihm gerne gewährte.»
Um noch genauer zu erfahren, wer warum die Gotteshäuser aufsucht, hat Pfarrer Sigrist – zusammen mit der Universität Bern, den Schweizer und den deutschen City-Kirchen sowie der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) – eine gross angelegte Befragung der Kirchenbesucher ange-stossen. Detaillierte Resultate liegen im Herbst vor – rechtzeitig für 2017, zum 500. Jahrestag von Martin Luthers Reformation.
Touristen, die mit dem Kirchenbesuch bloss einen weiteren Sightseeing-Punkt abhaken, sind nach bisherigen Erkenntnissen in der Minderheit. «Rund ein Fünftel der Kirchenbesucher kommen zum Gebet oder sonst einer Art der spirituell-geistigen Einkehr, sagt Pfarrer Sigrist. «Sie beten, meditieren oder zünden eine Kerze an.»
Etwa 40 Prozent der Besucher kämen aus Interesse an dem historischen Ort in die Stammkirche von Huldrych Zwinglis Reformation: «Das sind Gläubige, welche die Kirche aus religiösen Gründen betreten.» Etwa Baptisten aus den USA auf Pilgerreise in Europa, oder auch orthodoxe Christen, denen die Zürcher Stadtpatrone Felix und Regula ebenfalls heilig sind. Erst die restlichen 40 Prozent der Grossmünsterbesucher, so Sigrist, kämen vorwiegend aus ästhetischem Interesse: Wegen der Architektur oder des Lichteinfalls durch die bunten Glasfenster von Augusto Giacometti und Sigmar Polke.
Hinter dem Interesse an der Motivation der Kirchenbesucher steht die Frage, welche Rolle die grossen Stadtkirchen künftig in einer modernen, multikulturellen Gesellschaft spielen können. «Kirchen vom Petersdom bis zum Grossmünster haben ein Potenzial, das sie entwickeln müssen», ist Christoph Sigrist überzeugt. «Idealerweise kommt der Mensch anders aus der Kirche heraus, als er hineingegangen ist.»