Zum Zmorge ein Saftgemisch, südamerikanische Körner im Zmittag, abends auf keinen Fall Nudeln: Für den modernen Schweizer ist Essen zur Frage der Identität geworden – wie Musikgeschmack oder Modestil. War man früher froh, wenn genug auf dem Tisch war, lässt man heute ohne schlechtes Gewissen die Hälfte stehen – im Namen der Gesundheit.
«Essen ist zu ‹Ernährung› geworden. Es wird heute oft von vielen Menschen in ‹schwarz› und ‹weiss›, ‹richtig› und ‹falsch› eingeteilt», sagt Raoul Furlano (53), leitender Arzt der Abteilung Gastroenterologie und Ernährung am Universitären Kinderspital beider Basel (UKBB), und stellt fest: «Essen ist nicht mehr unbeschwert, ein Mittel zum Zweck, nämlich den Hunger zu stillen!»
Der Trend zur Ernährung nach individueller Diät wird am UKBB zum Problem. «Krankheitsbedingte, aber auch nutritive (ernährungsbedingte; Red.) Mangelerscheinungen bei Kindern gibt es im Spitalalltag seit jeher», sagt Furlano. Aber: «Die Fälle, die auf Diäten – Veganismus, Low Carb, Modediäten ohne Krankheitsdiagnose etc. – zurückzuführen sind, haben merklich zugenommen.»
Kinder müssen also leiden, weil ihnen die Eltern bestimmte Lebensmittel vorenthalten oder sie gezielt empfehlen. Mit teils gravierenden Folgen – etwa bei Low-Carb-Diät: «Bekommen Kinder keine Kohlendydrate, kann dies das Gehirn nachhaltig schädigen», sagt Furlano. Je nach Diät könnten sich die Heranwachsenden nicht richtig entwickeln. Der Mediziner stellt klar: «Kinder sollten sich nicht nach Diäten ernähren.»
Tiefer in die Tasche greifen
Veränderte Essgewohnheiten zwingen die Wirtschaft, zu reagieren. Die Airline Swiss ging eine Kooperation mit dem Zürcher Vegi-Restaurant Hiltl ein – um den Bedürfnissen vegetarischer und veganer Passagiere besser gerecht zu werden, teilt Swiss- Sprecherin Sonja Ptassek mit.
Und nicht nur das: 2014 baute die Swiss ihr Angebot an Allerigker-Menüs massiv aus – auf Wunsch der Kunden. Ptassek hält fest: «Seit drei Jahren stellen wir eine klare Entwicklung in Richtung Menüs fest, die auf besondere medizinische Bedürfnisse ausgerichtet sind.» Doch gesund reicht oft nicht mehr. Es muss auch noch schnell gehen. Die Detailhändler haben reagiert – weil sie wissen, dass Konsumenten bereit sind, dafür tiefer in die Tasche zu greifen. «Die Nachfrage nach Sofortkonsumartikeln im Convenience-Bereich ist ungebrochen hoch», bestätigt Migros-Sprecherin Monika Weibel.
Beim Konkurrenten Coop sieht es ähnlich aus: «Um die Frische unserer Produkte sicherzustellen, werden die Produkte beispielsweise bei Coop to go direkt vor Ort zubereitet. Etwa unsere Smoothies», so Coop-Sprecherin Angela Wimmer. Und es lohnt sich: Migros wie Coop verzeichnen zweistellige Zuwachsraten im Frische-Bereich.
Sehr zum Argwohn des Vereins Foodwaste.ch, der sich gegen Mengen von unverkäuflicher Frischware wendet, die auf dem Müll landen: «Das ist eine Verschwendung von Ressourcen – vor allem wenn es nicht nur einheimische Äpfel sind, sondern weitgereiste Orangen», so Claudio Beretta (31), Präsident von foodwaste.ch. Von mehr als zwei Millionen Tonnen Lebensmitteln, die in der Schweiz im Kübel enden, entsteht rund ein Drittel schon bei der Verarbeitung. Vor allem der Saft-Trend führt laut Beretta den Gesundheitstrend ad absurdum: «Die Pressrückstände haben mindestens so wertvolle Nährstoffe wie der Saft.»
Dazu die Migros: «Foodwaste lässt sich in diesem Bereich nicht völlig vermeiden, da wir zunehmend auch mit Tagesartikeln arbeiten, die für den schnellen Verbrauch produziert werden.» Immerhin verarbeite man die Essensreste zu Gas und nutze sie so zur Energierückgewinnung. Eine Grundannahme des Gesundheit-Trends ist es, dass eine Diät oder ein bestimmtes Lebensmittel die ultimative Antwort auf alle Probleme sei. Dazu Katharina Fodor (52) von der Ernährungsberatung Weinfelden: «Es ist generell eine grosse Leichtgläubigkeit da. Es gibt keine Wundermittelchen!»
Mode-Lebensmittel können der Gesundheit schaden
Dies zeige sich am so genannten Superfood – Lebensmittel, denen besondere Eigenschaften zugeschrieben werden: Chia-Samen, Goji-Beeren oder – gerade besonders en vogue – chinesische Cordyceps-Pilze. «Es ist ein grosses Geschrei der Gesundheitsfanatiker um wenig Wirkung.» Mode-Lebensmittel könnten sogar der Gesundheit schaden: «Smoothies sind wahre Kalorienbomben.», so Fodor.
Sobald ein Lebensmittel einen Hype auslöse, werde es unter zunehmend zweifelhaften Umständen produziert. «So enthalten die Cordyceps-Pilze zum Teil grosse Mengen an Schwermetall.» Besser wäre laut Fodor: Sich besser mit dem eigenen Körper auseinander zu setzen und seine Bedürfnisse zu kennen.
Vielleicht auch ein bisschen mehr Entspannung. Und weniger Fixierung auf die «richtige» Ernährung.