Der letzte Bürgerkrieg in der Schweiz fand 1847 statt: Die Konservativen verteidigten die Eigenständigkeit der Kantone, die Liberalen kämpften für einen starken Bundesstaat. Der Krieg dauerte knapp einen Monat, die Liberalen setzten sich durch. Im Jahr darauf, 1848, gab sich die Schweiz eine neue Verfassung. 2023 wird der Bundesstaat 175 Jahre alt – Zeit für ein Gespräch mit den modernen Vertretern der konservativen und der progressiven Schweiz: Gerhard Pfister und Sanija Ameti.
Vor 175 Jahren entstand der moderne Bundesstaat. Frau Ameti, gehört die Zahl 1848 zur DNA der Schweiz?
Sanija Ameti: Ich spreche nicht gern von DNA, weil das etwas Unveränderliches ist. Aber schauen Sie, ich habe meine Bundesverfassung aus dem Jusstudium mitgenommen (sie zieht die Verfassung aus der Tasche). Denn wo ist die DNA eines Landes festgehalten, wenn nicht in der Verfassung? Dort steht zu Beginn: «Im Namen Gottes des Allmächtigen». Diese Präambel hat meine Identität als Schweizerin geprägt – obwohl ich Atheistin bin.
Sanija Ameti (30) wurde 1992 in Bosnien geboren. Die Familie flüchtete wegen des Kriegs in die Schweiz. Ihr Vater war ein oppositioneller Politiker und wurde verfolgt. Sanija Ameti studierte Staats- und Völkerrecht. Heute arbeitet sie an der Universität Bern am Institut für öffentliches Recht. Sie sitzt in der Parteileitung der GLP des Kantons Zürich und ist Co-Präsidentin von Operation Libero.
Sanija Ameti (30) wurde 1992 in Bosnien geboren. Die Familie flüchtete wegen des Kriegs in die Schweiz. Ihr Vater war ein oppositioneller Politiker und wurde verfolgt. Sanija Ameti studierte Staats- und Völkerrecht. Heute arbeitet sie an der Universität Bern am Institut für öffentliches Recht. Sie sitzt in der Parteileitung der GLP des Kantons Zürich und ist Co-Präsidentin von Operation Libero.
Wie meinen Sie das?
Ameti: Als Tochter muslimischer Eltern entdeckte ich in dieser Formel ein vertrautes Wertesystem, das an unsere Verantwortung gegenüber unseren Mitmenschen erinnert. Das hat meine Identität gefestigt und insofern auch meine DNA.
Gerhard Pfister: (Nickt) Der Rechtsstaat lebt von Voraussetzungen, die er nicht selber schaffen kann. Im Namen Gottes des Allmächtigen – das bedeutet: Was danach kommt, ist von Menschen gemacht. Und die sind nicht allmächtig.
Ameti: Für Operation Libero ist das Jahr 1848 zentral. Nicht von ungefähr hiess unser Gründungsmanifest «Wir Kinder von 1848». Dieses Datum legt einen Verfassungspatriotismus offen – und damit einen anderen Patriotismus als jenen des mystifizierten Jahres 1291. Dieser schliesst all jene aus, die nicht seit Generationen in der Schweiz leben. Der Verfassungspatriotismus hingegen bringt uns dazu, Verantwortung zu übernehmen für unsere Institutionen.
Gerhard Pfister (60) wuchs in Oberägeri ZG auf. Nach der Primarschule besuchte er die Klosterschule Disentis und studierte in Freiburg Literatur und Philosophie. Nach dem Tod des Vaters führte er dessen Schulinternat bis zur Schliessung 2008 weiter. Von 1998 bis 2003 sass Pfister im Zuger Kantonsrat. 2003 wurde er in den Nationalrat gewählt. 2016 übernahm er das Präsidium der CVP Schweiz, mittlerweile umbenannt in Die Mitte.
Gerhard Pfister (60) wuchs in Oberägeri ZG auf. Nach der Primarschule besuchte er die Klosterschule Disentis und studierte in Freiburg Literatur und Philosophie. Nach dem Tod des Vaters führte er dessen Schulinternat bis zur Schliessung 2008 weiter. Von 1998 bis 2003 sass Pfister im Zuger Kantonsrat. 2003 wurde er in den Nationalrat gewählt. 2016 übernahm er das Präsidium der CVP Schweiz, mittlerweile umbenannt in Die Mitte.
Was bedeutet die Verfassung für Sie, Herr Pfister?
Pfister: Die Bundesverfassung ist ein Wunderwerk. Sie wurde zu einem Zeitpunkt geschrieben, als der letzte Bürgerkriegstote in der Schweiz zu verzeichnen war. Seither hatte die Schweiz keinen Krieg mehr. Schon darum ist 1848 ein unglaublich wichtiges Datum. Die geniale Leistung der Staatsgründer war, dass sie aus dem Bürgerkrieg heraus die Sensibilität hatten, die Verlierer nicht zu bestrafen, sondern zu integrieren.
Ameti: Wenn wir über unsere Verfassung sprechen, sprechen wir über Macht, Reformen und Institutionen. Und da stelle ich fest: Wir befinden uns in einer Reformblockade. Die Frage ist: Welche Schweiz wollen wir für die Zukunft?
Sagen Sie es uns.
Ameti: Es ist eine Schweiz, die Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Chancengleichheit und Wohlstand für alle ermöglicht. Dafür müssen wir unsere Infrastrukturen, insbesondere die Verfassung reformieren! Im Moment haben wir einen Reformstau in vielen wichtigen Dossiers: Klima, Landwirtschaft, Europa, Bürgerrecht.
SVP-Doyen Christoph Blocher sieht auch Handlungsbedarf – in der Aussenpolitik. Er will «immerwährende und bewaffnete» Neutralität in die Verfassung schreiben.
Pfister: Ich halte die Neutralitäts-Initiative für abwegig. Sie fällt noch hinter die aktuelle Politik des Bundesrats zurück. Ich habe dessen zögerliche Haltung im Ukraine-Krieg kritisiert und will ihn in der Aussenpolitik nicht aus der Verantwortung entlassen. Die SVP-Initiative hätte aber genau dies zur Folge.
Frau Ameti, Ihre Eltern haben Krieg erlebt. Sie selbst kamen als Flüchtlingskind in die Schweiz. Empfinden Sie die Neutralität als Affront?
Ameti: Es ist eine Schande, wie man sich hinter dem Begriff der Neutralität versteckt, um sich kurzfristig Vorteile zu sichern und seine eigenen Werte zu leugnen. Wir sind Schweizerinnen wegen unserer Werte, die wir mit unseren europäischen Nachbarn teilen.
Herr Pfister, Sie hatten sich zu Kriegsbeginn ähnlich geäussert …
Pfister: Ich stehe zur Neutralität der Schweiz, die ihre Werte selbstverständlich verteidigen muss. Aber wenn die Neutralität als Vorwand dient, der Ukraine nicht zu helfen, wird sie unanständig.
Ist sie das bereits?
Pfister: Wer Waffen nach Saudi-Arabien liefert, die offensichtlich im Krieg im Jemen eingesetzt werden, müsste auch den Deutschen erlauben, von der Schweiz gekaufte Waffen an die Ukraine weiterzugeben. Der Bundesrat will sich dieser Frage nicht stellen. Das ist ein Mangel an politischer Verantwortung.
Neben der Neutralität geben auch die Themen Einwanderung und Integration seit jeher zu reden. Frau Ameti, Sie sparen nicht mit Kritik am System.
Ameti: Die Schweiz hat nach Zypern das zweitschärfste Bürgerrecht in Europa. Wir schliessen zwei Millionen Einwohner vom Bürgerrecht aus. Die Hürden für Einbürgerungen sind extrem hoch und teilweise Schikane.
Inwiefern?
Ameti: Ich liess mich in der Stadt Zürich einbürgern, das war verhältnismässig angenehm. Eine gleichaltrige Freundin wollte sich im ländlichen Thurgau einbürgern lassen. Eine der Fragen an sie war: Wie viele Einwohner hat das Nachbardorf? An solchen Fragen scheiterte sie schliesslich. Das ist nicht akzeptabel.
Pfister: Der Erwerb des Bürgerrechts ist der Abschluss einer gelungenen Integration, nicht ihre Voraussetzung. Natürlich gibt es bei Einbürgerungen leider manchmal unschöne Vorkommnisse. Aber was ist der Grundgedanke? Erfolgreiche Integration bedeutet, eine neue Heimat gefunden zu haben. Die kann im Thurgau durchaus anders aussehen als in Zürich. Diese Vielfalt würde ich um keinen Preis verlieren wollen.
Ameti: Nichts gegen Vielfalt, aber Schikane ist kein Merkmal für Vielfalt.
Pfister: Einzelne Missstände bedeuten nicht, dass das ganze System fehlgeleitet ist.
Herr Pfister, Sie sehen keinen Handlungsbedarf?
Pfister: Wir sollten öfter von den Erfolgen unserer Integrationspolitik sprechen. Wir haben einen hohen Ausländeranteil, keine Ghettoisierung und ein Bildungssystem, das jedem die Befähigung zur Teilhabe an unserer Demokratie gibt. Die Schweiz hat eine unglaublich hohe Integrationskraft. Darauf sollten wir den Fokus legen statt ausschliesslich auf die Probleme.
Ist es kein Problem, wenn ein Viertel der Gesellschaft Steuern zahlt, aber von der Mitsprache ausgeschlossen ist?
Pfister: Sie sind nicht ausgeschlossen, sondern haben es mit gewissen Teilnahmebedingungen zu tun. An diesen Voraussetzungen sollten wir nicht rütteln.
Ameti: Die heutige Haltung der Politik ist immer noch: Es ist ein Privileg und kein Recht, Schweizer zu sein. Aber wer dem liberalen Grundsatz «no taxation without representation» folgt – «keine Steuern ohne Mitsprache» –, muss die Einbürgerung als Recht anschauen. Deshalb arbeiten wir mit weiteren Akteuren an einer Initiative für ein liberales Bürgerrecht. Mit dem Ziel, einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung zu schaffen – mit einheitlichen Kriterien im ganzen Land. Nur ein Recht und nicht ein Privileg kann für alle gleich gelten.
Über das Schicksal der Initiative entscheiden werden die über 50-Jährigen. Sie stellen 60 Prozent der Abstimmenden. Warum kriegen Sie die Jungen nicht an die Urne, Frau Ameti?
Ameti: Wir versuchen es. Aber mit dem Ständerat und dem Ständemehr haben die ländlichen, konservativen Anliegen einen Startvorteil. Und dann haben wir im Parlament eine starke Homogenität hinsichtlich Alter, Geschlecht, Migrationshintergrund und sozialem Status. Denn ins Parlament kommen nicht alle.
Nicht?
Ameti: Um gewählt zu werden, braucht es Geld und Zeit. Das kann sich nicht jeder leisten.
Pfister: Das sehe ich anders. Unsere direkte Demokratie bietet unzählige Möglichkeiten, sich politisch einzubringen – am einfachsten auf der Ebene der Gemeinde. Ich stelle fest, dass die Jugend heute erfreulicherweise viel politisierter ist als früher. Die Hürden für politisches Engagement sind nicht gross. Natürlich, manchen geht der Prozess zu langsam.
Ameti: Wir hatten noch nie so viele Referenden und Initiativen wie in den letzten Jahren. Das zeigt: Das Volk ist mit den Reformen des Parlaments nicht einverstanden.
Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Ameti: In den letzten Jahrzehnten dominierten Seilschaften von Sonderinteressen das Parlament. Die grossen Wirtschaftsverbände, die Bauern- und Blockadeverbände, geben die konservative Richtung vor.
Pfister: Auch ein Bauernverband entscheidet im Parlament nicht allein. Wir haben eine Politik der wechselnden Mehrheiten. Viel gefährlicher ist die Polarisierung: Alle bleiben auf ihrer Meinung hocken – und wer nachgibt, verliert. Dabei war die Schweiz immer dann erfolgreich, wenn sie ihre Mitte gefunden hat.
Apropos Mitte: Eine Polpartei ist die Mitte definitionsgemäss nicht. Bloss weiss niemand so genau, wofür die Partei eigentlich steht.
Pfister: Die Mitte steht für Freiheit, Solidarität und den Zusammenhalt der Schweiz. Dass wir eine gewisse Vielfalt an Meinungen haben, hat mit der Breite der Partei zu tun. Aber das ist der Charakter von Mitte-Parteien – das sieht man auch bei der GLP.
Frau Ameti, wie verschafft sich Operation Libero im Wahljahr Gehör?
Ameti: Wir rücken die Frage ins Zentrum: Schweiz, wie hast du’s mit Europa? Das ist das Anliegen unserer Europa-Initiative. Sie verpflichtet den Bundesrat, eine institutionelle Lösung zu finden. Wir wollen das Ziel festmachen, bevor wir kleinkrämerisch über Technisches wie den Lohnschutz sprechen – oder darüber, mit welchem Mittel wir das Ziel erreichen.
Das ist doch Zwängerei. Sie wollen nicht akzeptieren, dass das Rahmenabkommen tot ist.
Ameti: Nein, es geht uns um die Grundsatzdebatte, die bisher nie geführt wurde. Auch nicht bei der Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland. Man versteckt sich hinter dem abstrakten Souveränitätsbegriff, weil man die politische Diskussion scheut.
Pfister: Wir sprechen täglich über Europa und unser Verhältnis dazu – zu Recht. Aber ich zweifle, ob Ihre Initiative zielführend ist. Auf die Frage, ob die Schweiz eine institutionelle Anbindung will, kommt sofort die Gegenfrage: Welche denn? Die Bilateralen III, ein EWR-Beitritt oder ein Rahmenabkommen 2.0? Für uns ist bei jedem Abkommen zentral, dass unsere Löhne und unsere Sozialwerke geschützt bleiben.
Ameti: Jede dieser drei Optionen wird scheitern, solange sie mit einem leeren Souveränitätsbegriff totgeschlagen werden kann. Tatsache ist: Ohne institutionelle Anbindung an die EU verlieren wir unsere Handlungsfähigkeit, unsere Souveränität. Wer glaubt, wir seien heute handlungsfähig, lebt in einem Disneyland der Selbstlüge. Denn die Bilateralen verlieren täglich an Wert. Deshalb braucht es zuerst einen Entscheid über das grundsätzliche Ziel in der Verfassung. Das geht nur mit der Initiative.
Wir haben viel über die Probleme im System Schweiz gesprochen. Finden Sie es richtig, dass sich die Schweiz anlässlich von 175 Jahren Bundesstaat selbst feiert?
Pfister: Solche Feiern sind wichtig. Aber wir sollten uns nicht selbst feiern, sondern dankbar sein. Es ist ein Privileg, in der Schweiz zu leben. Wenn das ein Aspekt der Feier ist, wäre ich schon einmal sehr zufrieden.
Ameti: Neben Dankbarkeit gehört für mich auch Verantwortungsbewusstsein dazu. Das Bewusstsein dafür, dass wir diese 175 Jahre in die Zukunft tragen müssen. Das schaffen wir nur mit Reformen – und da ist auch die Mitte gefragt.
Pfister: Richtig.