Einfach der Nase nach. Wer die Zuckerfabrik in Aarberg BE sucht, braucht bloss dem leicht süsslichen, erdigen Geruch zu folgen, der sich an diesem frühen Herbstmorgen wie der Nebel über das Seeländer Dorf gelegt hat.
Oder man folgt all den Traktoren und Lastwagen auf der Strasse, die von morgens bis abends das Fabrikareal ansteuern. Während der sogenannten Kampagne, der Rübenerntezeit zwischen Oktober und Dezember, werden hier jeden Tag Tausende Tonnen Rüben gewaschen, geschnetzelt, in riesigen Stahltanks eingekocht und zu Kristallzucker verarbeitet. 220'000 Tonnen des süssen Rohstoffs produzieren die beiden Werke in Aarberg und Frauenfeld pro Jahr. Er landet verarbeitet in Schoggi, Guetzli, Energydrinks oder direkt, in Würfelform oder im Papiersack, im Laden.
35 Millionen Franken für Zucker
Um ein Kilo Zucker herzustellen, brauchts rund acht Rüben. Die zweite Zutat steht nicht auf der Verpackung: Steuergeld. Der Bund pumpt jährlich Millionen in die Zuckerbranche. Das Geld fliesst nicht an die Schweizer Zucker AG, die die Fabriken betreibt, sondern an die Bauern. 2100 Franken erhält ein Rübenpflanzer jährlich pro Hektar Zuckerrüben – dreimal mehr als für Kartoffeln oder Mais. Bei den aktuell rund 16'500 Hektaren Rübenäckern macht das rund 35 Millionen Franken pro Jahr. Dazu kommen weitere Direktzahlungen, zum Beispiel, wenn ein Landwirt freiwillig den Einsatz von Pestiziden einschränkt.
Die Zucker-Subventionen sind umstritten. Keine andere Kultur erhält mehr Direktzahlungen als die weissen, süssen Rüben. Und bei keiner anderen Kultur ist die Höhe der Direktzahlungen sowie ein Mindestpreis für Importe sogar im Gesetz festgeschrieben – womit der Bund sie nicht ohne Zustimmung des Parlaments senken kann.
Angesichts dieser Voraussetzungen wirbt die Branche mit dem Versprechen nach «formidablen Gewinnen» um neue Rübenbauer. Dank der hohen Direktzahlungen sei «jede abgelieferte Zuckerrübe verdientes Geld». In einem Werbevideo sagt ein Bauer: «Liebe Kollegen, nicht lange überlegen. Zuckerrüben säen, und dann habt ihr Erfolg!»
Paradoxe Politik
Die Schweizer Zuckerpolitik, sie ist paradox. Denn nicht nur die subventionierte Zuckerproduktion kostet den Staat Millionen – noch viel teurer sind die Folgen des zu hohen Zuckerkonsums. Nicht mehr als 50 Gramm sollte ein Erwachsener laut Weltgesundheitsorganisation im Schnitt täglich zu sich nehmen – besser wären 25 Gramm. Tatsächlich essen und trinken wir pro Tag durchschnittlich 100 Gramm. Was erwiesenermassen unserer Gesundheit schadet.
Der Bund setzt sich deshalb, wenn auch zaghaft, für eine Reduktion des Zuckerkonsums ein. Zum Beispiel, indem Gesundheitsminister Alain Berset (51) die Müesli- und Joghurthersteller dazu bewegt hat, sich zur Reduktion des Zuckergehalts in ihren Produkten zu verpflichten.
Andererseits hat der Bund die Zuckerfabriken bis 2009 sogar direkt subventioniert. Und noch heute ist der Staat finanziell an den Zuckerfabriken beteiligt: Knapp ein Viertel der Aktien wird von Kantonen und Gemeinden gehalten. Der Kanton Thurgau beispielsweise besitzt Aktien zu einem aktuellen Wert von rund 1,3 Millionen Franken. Die Beteiligten haben also zumindest finanziell kein Interesse daran, dass der Zuckerverbrauch stark gedrosselt wird.
Kantone wollen Gesetz anpassen
Die Rübenbauern verteidigen die hohen Zucker-Subventionen. Sie wurden schrittweise erhöht. Zuletzt vor vier Jahren, befristet bis 2026. «Wir wollen nicht einfach Geld abholen. Unser Ziel ist eine anständige Rübenernte», sagt Martin Flury (45), Präsident des Schweizer Rübenpflanzer-Verbands. Nachdem der Bund vor einigen Jahren das Insektizid Gaucho verboten hat, das auch im Rübenanbau zum Einsatz kam, seien die Ernten eingebrochen. Die Entwicklung neuer, resistenter Sorten laufe, «doch das dauert einige Jahre». Bis dahin brauche es höhere Direktzahlungen als Überbrückung. «Es geht einfach nicht anders», sagt Flury.
Im Parlament kämpfen Bauern- und Zuckerlobby allerdings gerade dafür, dass aus der befristeten Regelung ein Dauerzustand wird. Bern und Thurgau, die Standortkantone der Zuckerfabriken, wollen aus der befristeten Staatshilfe einen Dauerzustand machen. Konkret soll im Gesetz festgehalten werden, dass der Selbstversorgungsgrad mit Schweizer Zucker mindestens auf dem heutigen Niveau beibehalten werden muss. Heute werden in der Schweiz rund 320'000 Tonnen Zucker pro Jahr gebraucht, knapp 70 Prozent davon kommt aus dem Inland. Die Wirtschaftskommission des Ständerats hat sich bereits für die Gesetzesänderung ausgesprochen. Die Forderung wird im Parlament noch für Diskussionen sorgen.
«Wir brauchen eine vernünftige Anschlusslösung, die langfristig Sicherheit schafft», sagt Guido Stäger (64), Chef der Schweizer Zuckerfabriken. Die Alternative zu den hohen Direktzahlungen und dem Grenzschutz seien, wendet er ein, höhere Zuckerpreise. Und mehr Importe aus dem Ausland, wo der Zucker weniger nachhaltig produziert werde.
Ihr Ziel sei nicht, dass die Schweiz noch mehr Zucker isst, betonen der Zuckerproduzent wie auch der Rübenpflanzer. «Auch wir sind für einen Zuckerkonsum mit Mass», sagt Landwirt Flury. Jedenfalls, solang die Schweizer Produktion nicht gefährdet ist.
Korrigendum: Blick hat in einer ersten Version des Artikels fälschlicherweise geschrieben, dass die Staatshilfe für Zucker neu in der Verfassung verankert werden soll. Das stimmt nicht. Vorgesehen ist eine Anpassung des Gesetzes. Für den Fehler entschuldigen wir uns aufrichtig.