BLICK: Frau Bundesrätin, kann man in Zürich wohnen und für Graubünden im Nationalrat sitzen?
Eveline Widmer-Schlumpf: Ja, klar. Unser System sieht das vor. Das Volk entscheidet, von wem es gut vertreten sein will – und ob eine Person sich starkmacht für die kantonalen Anliegen.
Sie sind Bündnerin. Würden Sie eine Zürcherin wählen?
Ich habe stets nach klaren Eckwerten gewählt, das mache ich weiterhin so.
Besagte Zürcherin ist Ems-Chefin und Milliardärin Magdalena Martullo-Blocher. Ausgerechnet ihr Vermögen wollen Sie vor einer nationalen Erbschaftssteuer schützen.
Verschiedene Leute haben grosse Vermögen. Dafür haben sie in den Kantonen bereits Vermögenssteuer bezahlt, ebenso Einkommens- und Gewinnsteuern.
Die Ems-Chefin gehört zu den 0,1 Prozent der superreichen Schweizer, die 20 Prozent der Vermögen in der Schweiz besitzen. Sieht so eine gesunde Gesellschaft aus?
Das ist eine einseitige Sichtweise. Weil wir gut ausgebaute Sozialwerke und ein funktionierendes Gesundheitsnetz haben, ist es nicht zwingend nötig, eigens für das Alter ein Vermögen aufzubauen.
Die Initianten der Erbschaftssteuer wollen die Lücke schliessen zwischen Superreichen und anderen.
Warum soll denn ausgerechnet wegfallen, was wir momentan besteuern? Heute bezahlen all jene kantonale Erbschaftssteuern, die nicht in der direkten Linie des Erblassers stehen. Das können bis zu 35 Prozent sein. Einige wenige Kantone besteuern auch die direkten Nachkommen, jedoch mit einem tieferen Prozentsatz. Die Initiative will nun alle entlasten, die weniger als zwei Millionen Franken erben. Bei einem Erbe über zwei Millionen Franken werden Kinder und Enkel dann gleich belastet wie Personen, die nie familiäre Pflichten übernommen haben. Gerecht ist das nicht.
Was ist eine gerechte Steuer?
Darüber könnte ich lange reden. Wer Steuern zahlt, findet das oft nicht gerecht. Gerecht ist für mich eine Einkommensbesteuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Gerecht ist, wenn man auf Belastungen Rücksicht nimmt – etwa auf die Betreuung von Kindern oder auf die Pflege von Angehörigen.
Die unbeschränkte Weitergabe von riesigen Vermögen zwischen Generationen schafft ungleiche Startchancen. Das schwächt eine Gesellschaft.
In unserer Gesellschaft gibt es unterschiedliche Startmöglichkeiten. Es ist nicht das Ziel, alle Unterschiede zu beseitigen. Aber jedes Kind, das will und kann, soll in der Schweiz die Möglichkeit haben, eine gute Ausbildung zu erhalten und seinen Weg zu gehen.
Hinter einem Erbe steht keinerlei Leistung.
Das ist nicht ganz richtig. Beim Entstehen der Erbmasse waren oftmals mehrere beteiligt. Jene, die etwas erhalten – vor allem die Ehegatten und die direkten Nachkommen – haben oft etwas zum Entstehen des Erbes beigetragen. Sei es durch Mitarbeit im Familienbetrieb oder durch Unterstützungsleistungen.
Das Parlament setzt bei der Annahme der Initiative einen Freibetrag für Unternehmen fest. Läge er bei 50 Millionen Franken, wären KMU kaum betroffen. Was würden Sie dann sagen?
Dann erhielten die Kantone weniger als heute und müssten die Mindereinnahmen kompensieren.
Laut Initianten gibt es drei Milliarden: zwei für die AHV, eine für die Kantone.
Das ist unsere Rechnung, gestützt auf eine schmale Datenbasis von vier Kantonen. Diese drei Milliarden gäbe es nur ohne Abzüge für Unternehmen und landwirtschaftliche Betriebe.
Was passiert bei einem Freibetrag von 50 Millionen Franken?
Dann fällt für die Kantone weniger als eine Milliarde ab.
Wie viel?
Das weiss heute niemand genau. Es kommt darauf an, wie das Parlament das Gesetz ausgestalten würde. Je nach Freibetrag würden die Kantone einiges weniger als heute erhalten.
Sie bezweifeln, dass beim diskutierten Freibetrag von 50 Millionen Franken die Kantone noch 900 Millionen erhalten?
Das bezweifle ich nicht, davon ist auszugehen. Die Kantone erhielten weniger als 900 Millionen Franken. Die drei Milliarden beruhen auf einer Rechnung ohne Entlastung für Unternehmen. Eine Entlastung brächte je nach Ausgestaltung grosse Mindereinnahmen.
Zwei Drittel der Einnahmen aus der Erbschaftssteuer kämen der AHV zu. Dort klafft ein grosses Loch. Wie soll es sonst gestopft werden?
Es ist klar: Jeder Betrag in die AHV ist willkommen. Mit der Erbschaftssteuer lässt sich das Problem der AHV-Finanzierung aber nicht lösen. Wir müssen die AHV für die nächsten Generationen sichern. Der Bundesrat schlägt eine Erhöhung der Mehrwertsteuer vor.
Mit der nationalen Erbschaftssteuer könnte bis 2021 auf diese Erhöhung verzichtet werden.
Die höhere Mehrwertsteuer käme erst 2019. Die AHV zahlt jährlich 40 Milliarden Franken aus. Käme jetzt eine Milliarde dazu, wäre das schön. Aber angesichts der vorgesehenen Entlastung für Unternehmen und der zunehmenden Altersstruktur bringt die nationale Erbschaftssteuer letztlich nicht sehr viel. Insofern wäre es eine Scheinlösung.
Die Schweizer Wirtschaft lahmt, der Staat aber wächst rasant. Das können Sie als bürgerliche Bundesrätin nicht begrüssen.
Wer entscheidet, dass der Staat wächst? Wer ist der Staat? Das sind Sie, ich, alle Bürgerinnen und Bürger. Wir entscheiden, welche Aufgaben der Staat hat.
Für 2017 rechnet der Bund mit Ausgaben von 72,7 Milliarden Franken. Das ist ein Plus von 13 Prozent. So schnell wächst nicht einmal die chinesische Wirtschaft.
Sie vergleichen die Rechnung 2014 mit dem Finanzplan 2017. Das geht so nicht. Die Zahlen für 2017 sind längst viel tiefer. In der Vergangenheit gingen wir von einer Teuerung von jährlich 1,5 Prozent aus. Wir nehmen das jetzt zurück, stellen neue Berechnungen an. Daraus resultiert in den kommenden Jahren ein viel geringeres Wachstum.
Der Bund schnallt den Gürtel also enger?
Ja, wir nehmen das Ausgabenwachstum deutlich zurück. In der Vergangenheit wuchsen die Einkommenssteuern der juristischen und natürlichen Personen doppelt so schnell wie die Wirtschaft. Seit 2008 ist das nicht mehr der Fall.
Weshalb?
Die Löhne stiegen früher schneller. Wir hatten viele Zuzüge ausländischer Unternehmen. Der Franken war schwächer. Nun steigen die Steuereinnahmen langsamer, als wir uns das gewohnt waren. Darauf müssen wir bei der Budgetplanung Rücksicht nehmen.
Bürgerliche Parteien wollen die Ausgaben auf dem Niveau von 2014 einfrieren: rund 64 Milliarden. Unterstützen Sie diese Idee?
Es gibt bessere Ansätze, um den Staatshaushalt im Griff zu halten und trotzdem die für unsere Wirtschaft notwendigen Investitionen zu tätigen. Das Parlament hat im Dezember 2014 Zusatzausgaben beschlossen, unter anderem beim Verkehr, in der Bildung und in der Landwirtschaft. Alle Erhöhungen müsste man zurücknehmen. Das wäre in der heutigen wirtschaftlich schwierigeren Zeit kein gutes Signal.
Das Geld ist spottbillig. Warum bauen wir nicht neue Hallenbäder und Strassen oder kaufen Panzer, um die Wirtschaft anzukurbeln?
Und wenn die Zinsen eines Tages wieder steigen? Und wer bezahlt den Unterhalt, den Betrieb? Diese kurzfristige Betrachtung ist nicht zielführend. Die Verschuldung würde zunehmen, was uns eines Tages einholt. Man darf Politik nicht auf eine Sicht von zwei Jahren machen, sondern braucht einen Horizont von zehn Jahren.
Vor dreieinhalb Monaten hob die Nationalbank den Euro-Mindestkurs auf. Wie leben wir damit?
Die Wirtschaft hält sich bis jetzt erstaunlich gut. Dank der guten Weltwirtschaftslage sehe ich keine Anzeichen für eine Rezession. Grosse Probleme haben Maschinenindustrie und Bergtourismus. Zusammen mit dem Wirtschaftsdepartement aktualisieren wir bis Anfang Juli die Lagebeurteilung.
Sie sagten, ein Mindestkurs Franken/Euro von 1.10 wäre für die Unternehmen zu verkraften. Wo liegt der korrekte Kurs heute?
Mit Aussagen zum richtigen Frankenkurs halte ich mich zurück. Niemand bestreitet aber, dass der Franken heute deutlich überbewertet ist. Die Nationalbank bekämpft diese Überbewertung mit den Negativzinsen. Sie ist für den Wechselkurs zuständig.
Die wirtschaftliche Lokomotive USA stottert. Was bedeutet das?
Die Konjunktur in den USA scheint mir recht stabil. Der starke Dollar hat uns bisher geholfen. Viele Schweizer Unternehmen verkaufen in die USA. Auch deshalb ist keine Rezession in Sicht. Wir dürfen die Krise nicht herbeireden.
Wie prägt ein Wahljahr die Arbeit im Bundesrat?
Ein Wahljahr darf die Arbeit nicht beeinflussen. Sonst dürften wir nicht umstrittene Geschäfte wie die Unternehmenssteuerreform, den automatischen Informationsaustausch oder die neue Regelung der Verrechnungssteuer im Bundesrat diskutieren und dem Parlament vorlegen. Damit ist in der Öffentlichkeit kaum ein Blumentopf zu gewinnen.
Ihre Partei, die BDP, hat in jüngster Zeit die kantonalen Wahlen verloren. Warum?
Für die Analyse sind der Parteipräsident und die Kantonalpräsidenten zuständig. Als Bundesrätin habe ich andere Aufgaben.
Wie gut schlafen Sie mit den Niederlagen?
Ich schlafe immer gut. Wenig, aber gut.
Wie gerne sind Sie Bundesrätin?
Es macht mir Spass. Ich arbeite gerne, suche gerne Lösungen für Probleme.
Könnten Sie sich vorstellen, dereinst Graubünden im Nationalrat zu vertreten?
Ich kann mir gut vorstellen, dass ich dereinst etwas anderes als Politik machen werde.