Weibliche Flüchtlinge als Opfer
Übergriffe in Asylunterkünften

Acht Flüchtlingsfrauen wurden seit 2015 allein in Bundeszentren Opfer sexueller Gewalt. Auch Mitarbeiter sind unter den Tätern.
Publiziert: 24.12.2017 um 00:11 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 16:45 Uhr
Ärzte wissen: Fast alle alleinstehenden Frauen fühlen sich in Flüchtlingsunterkünften sexuell belästigt oder bedroht.
Foto: Keystone
Aline Wüst

Eine Podiumsdiskussion über Migration; die Bemerkung fällt fast nebenbei: Betreuer in einer Asylunterkunft sollen weibliche Flüchtlinge missbraucht haben. Wer Genaueres wissen will, stösst auf Schweigen. Und auf Angst. Mehr könne man nicht sagen, heisst es. Auch zum Schutz der betroffenen Frauen.

Klar ist: Weibliche Asylsuchende sind besonders verletzlich. Sie sind in einem fremden Land, kennen weder die Sprache noch ihre Rechte. Klar ist auch: Eine Mehrheit hat auf der Flucht sexuelle Gewalt erlebt. Viele wurden vergewaltigt. Nicht selten mehrmals.

«Ich muss mir furchtbare Dinge anhören»

Die Ärztin Fana Asefaw hat in ihrer Sprechstunde «Migration und Trauma» am Ambulatorium der Privatklinik Clienia in Winterthur ZH jeden Tag mit solchen Frauen zu tun. Sie kennt ihre Geschichten: «Wissen Sie, ich muss mir wirklich furchtbare Dinge anhören.» Asefaw braucht viel Zeit, um ein Vertrauensverhältnis zu den Frauen aufzubauen. Erst dann sprechen sie über die erlebte Gewalt. Wenn nicht, schweigen sie. Aus Scham.

Was die Ärztin hört, gibt ihr einen Einblick in die Vergangenheit vieler Flüchtlinge in der Schweiz. Umso erschreckender, dass auch die Gegenwart dieser Frauen von Gewalt geprägt ist. Matthis Schick ist Oberarzt am Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer am Unispital Zürich. Er sagt: «Diejenigen unserer Patientinnen, die ohne Ehemann in der Schweiz sind, haben in den Unterkünften fast alle Situationen erlebt, in welchen sie sich sexuell belästigt, bedrängt oder bedroht fühlten.» Ärzte der Ambulatorien für Kriegs- und Folteropfer des Schweizerischen Roten Kreuzes bestätigen dies.

Hohe Hemmschwelle

Sich gegen sexuelle Gewalt zu wehren, ist auch für Schweizerinnen schwierig – für asylsuchenden Frauen liegt die Schwelle noch höher. Denise Trummer von der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes weiss, dass vor allem die Angst vor negativen Auswirkungen auf das Asylverfahren die Opfer schweigen lässt. Die Furcht, der Ehemann könnte es erfahren, kommt hinzu.

Wie sehr sich weibliche Flüchtlinge vor Gewalt fürchten, erlebt Trummer immer wieder: Viele verschanzen sich in ihren Zimmern, trauen sich nachts nicht auf die Toilette. Um die Frauen besser zu schützen, müssten die Betreiber der Zentren darum ganz genau hinschauen, sagt Trummer.

Doch tun sie das? Auf Anfrage berichten grosse Deutschschweizer Kantone, dass sie keine Kenntnisse von sexuellen Übergriffen hätten. Nur das kleine Schaffhausen antwortet, es sei zu zwei Übergriffen von Asylsuchenden auf weibliche Flüchtlinge gekommen. Die Asylbetreuungsorganisationen AOZ und ORS melden unisono: Noch nie vorgekommen. Diese Organisationen betreiben auch die Asylzentren des Bundes.

Opfer scheuen vor Strafanzeige zurück

Beim Bund allerdings gibt man zu: Es kommt vor. Acht Fälle von sexueller Gewalt wurden in den letzten drei Jahren registriert. Vier Mal wurden Flüchtlinge Opfer von sexuellen Übergriffen durch andere Asylsuchende. Vier Frauen wurden von Mitarbeitern missbraucht. In keinem Fall wagten die Opfer, eine Strafanzeige zu machen. Deshalb kam es auch nicht zu justiziellen Verfahren. Den vier beteiligten Mitarbeitern sei gekündigt worden. Dies «aufgrund der festgestellten fehlenden professionellen Distanz», wie Martin Reichlin schreibt, stellvertretender Kommunikationschef des Staatssekretariats für Migration.

Er betont, dass alle Mitarbeiter in Schulungen für diese Fragen sensibilisiert würden.

Auch Aufklärung über Behandlungsweisen ist wichtig

Auch Fana Asefaw, die Ärztin aus Winterthur, hört immer wieder von Patientinnen, dass sie sich in Unterkünften sexuell belästigt fühlen. Kürzlich intervenierte sie in einer Unterkunft, nachdem Frauen davon erzählten, sie seien von einem Asylarzt bedrängt worden. Ergebnis: Ihre Patientinnen werden nicht mehr von diesem Arzt untersucht.

Die Ärztin weist darauf hin, dass es für das medizinische Personal wichtig sein könne, beispielsweise den Oberkörper abzuhören, auch wenn die Betroffene keinen direkten Zusammenhang mit ihren Beschwerden erkennen kann. «Es ist deshalb zentral, die Frauen kultursensibel über den Zweck der Untersuchung und über ihre Rechte aufzuklären», sagt sie.

Yvonne Leist ist Sozialarbeiterin beim Zentrum für Psychotraumatologie Gravita in St. Gallen. Sie weiss von zwei Übergriffen aus der Ostschweiz. In einem Fall war der Täter ein Aslysuchender, im anderen Mitarbeiter einer kantonalen Asylunterkunft. Die betroffene Flüchtlingsfrau meldete den Vorfall, stellte aber keine Strafanzeige. Der Mitarbeiter wurde entlassen.

«Es ist eine Wahnsinnsleistung dieser Frau, dass sie den Übergriff gemeldet hat», sagt Leist. Sie geht in der Frage solcher Übergriffe von einer hohe Dunkelziffer aus.

Selbstverteidigungskurse für Flüchtlingsfrauen

Um die Flüchtlingsfrauen zu stärken und besser zu schützen, bietet Gravita seit neustem sogar Selbstverteidigungskurse für Frauen an. Ein Gruppe von Afghaninnen hat den Kurs bereits absolviert, derzeit üben Eritreerinnen, sich körperlich zu wehren.

Dass weibliche Asylsuchende besser geschützt werden müssen, ist auch bei den grossen Asylbetreibern ORS und AOZ klar geworden. ORS entwirft zurzeit einen Mitarbeiter-Leitfaden, der sich auch mit sexuellem Missbrauch beschäftigt. Und die AOZ erarbeitet in Zusammenarbeit mit einer Fachstelle ein zusätzliches Konzept zum Umgang mit sexueller Ausbeutung.

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