BLICK: Herr Muschg, wie der Fall des BDP-Politikers Thomas Keller zeigt, wird das einst Unsägliche sagbar. Woran liegt das?
Adolf Muschg: Das Tabu reizt immer zum Bruch, denn es ist mit starken Reflexen besetzt und lockt Gegenreflexe hervor. Man kann den Tabubruch einen antiautoritären Akt nennen – auf primitiver Stufe. Auf einer Reise nach Neuseeland ist mir vor Jahren aufgefallen, dass eine Hafenmauer ganz mit Hakenkreuzen bedeckt war – protestierende Maori hatten sie gemalt. Von Nazis hatten sie keine Ahnung – aber sie wussten, dass man die britenfreundlichen Weissen mit keinem Zeichen mehr auf die Palme bringen konnte.
Doch in der Politik ist es nicht so einfach, oder? Da wird bewusst mit dem Brechen von Tabus gespielt.
Was muss ein Politiker erregen? Aufmerksamkeit. Womit, ist fast egal und morgen schon vergessen. Trump gibt das Beispiel: Es funktioniert. Grenzüberschreitung ist geil. Es wäre ein Wunder, wenn diese Logik vor Hitler oder dem Holocaust halt machte. Auch moralische Autorität ist unpopulär – das ist eine Frucht der allgemeinen Verbeugung vor der Korrektheit. Sie reizt zum Widerspruch, und der kann dann ruhig noch schwachsinniger sein als sie. Hauptsache, da hats wieder einmal jemand gesagt, dann ist er auch jemand. Und ein wenig hat er ja auch noch recht: Mit Denkverboten kommt man dem Unsagbaren nicht bei.
Das heisst?
Man muss darüber reden, dass es weiter geschieht, vor unseren Augen, in unserer Reichweite, wenn auch nicht mit bürokratischem System wie im NS-Staat. Hier und heute wird man an Genoziden nicht durch Taten schuldig, sondern durch Unterlassungen. Der Holocaust war ein einmaliges Menschheitsverbrechen. Punktum? Nur, wenn der nächste Satz lautet: Und es kann wieder geschehen, und geschieht auch. Auschwitz darf kein Alibi sein, für niemanden. Ich habe beim Holocaust-Mahnmal in Berlin Diskussionen erlebt, die die ganze Verlegenheit des Homo sapiens vor seinem eigenen schauderhaften Potenzial zum Ausdruck brachten. Und dann auch noch die Überheblichkeit der Bewältigungs-Spezialisten. Da habe ich die Verzweiflung eines jüdischen Psychiaters verstanden, dem zu Auschwitz nur noch einfiel: Vergessen.
Wie, vergessen?
Es war eine starke Provokation – er meinte das Gegenteil, wollte nur kein Denkmal der Selbstgratulation. Dass derselbe Mensch das Zeug zum Ungeheuer wie zum Wohltäter hat, liegt offenbar zu nahe, als dass wir es zu fassen bereit sind. Natürlich war Hitler ein guter Onkel im Hause Wagner und ein charmanter Chef seiner Sekretärinnen. Ebenso natürlich haben seine Autobahnen und Volkswagenwerke die Arbeitslosigkeit beseitigt wie jede Kriegswirtschaft, und seine Kraft-durch-Freude-Fahrten waren Schulen der Volksgemeinschaft. Was uns an Kriegsverbrechern keine Ruhe lassen sollte, war, dass sie keine Monster waren, sondern so verdammt menschlich.
Aber kann sich ein junger Mann – kein Zeitzeuge – wie Thomas Keller darauf berufen?
Ich fürchte, er hält sich nur für gerecht. «Es war nicht alles schlecht an diesem Mann» – er gratuliert sich dazu, statt dass es ihn doppelt wachsam macht gegen die eigene Politik, an der bekanntlich auch nicht alles schlecht, und auch das Schlechte immer noch gut gemeint ist. Das erinnert mich an den Pharisäer in der Bibel. Aber warum tun ihm die Medien den Gefallen, auf seine Sprüche einzusteigen? Sie machen ihn so wichtig, wie er nicht ist. Nicht mal ignorieren, dann brauchten wir kein Wort darüber zu verlieren.
Inwiefern befördern die sozialen Medien solche Entgleisungen?
Sie leben davon, es ist der digitalisierte Zirkus, in dem alle Schausteller sind und alle Zuschauer: Exhibitionisten und Voyeure in einer Person. Die Droge eigener Wichtigkeit ist unwiderstehlich, und sie macht immun gegen die Wahrnehmung, dass jeder nur sich selbst hört – und nach der Tonart zu schliessen haben alle viel loszuwerden. Wenigstens für die Veranstalter ist die Show profitabel – die Mitwirkenden geben sich zu erkennen: nicht als Personen, aber als Kunden. Sie liefern ihm ihr Profil gratis und franko.
Und wie reagieren wir darauf am besten?
Nehmen wir an, Herr Keller sässe mir am Tisch gegenüber: Ich würde ihm zeigen, dass mich seine Position interessiert und dass ich ihm widersprechen kann, ohne ihn abzuschreiben. Vermutlich würde sich sein Verlangen nach Gerechtigkeit im persönlichen Kontakt als etwas ganz anderes zu erkennen geben, das Aufmerksamkeit verdient; nicht für Herrn Hitler, sondern für Herrn Keller.
Also mehr Nachsicht?
Das klingt mir zu hochmütig. Im persönlichen Verkehr kommt man mit Interesse weiter. Im politischen Streit würde ich dafür eintreten, dass Hitler, und das heisst «Germany (oder America oder Switzerland) First» die falschen Adressen sind, vor der drohenden Globalisierung Schutz zu suchen. Es bleibt – im alten Wortsinn – idiotisch, das heisst: Auf das – vermeintliche – Eigene fixiert: Identität als Wert für sich. Aber man kann die Idiotie angreifen, ohne den Widersacher einen Idioten zu nennen.
Adolf Muschg (84) ist einer der wichtigsten Schweizer Intellektuellen. Aufgewachsen in Zollikon ZH, wurde der Germanist zunächst Lehrer und später Professor für deutsche Literatur und Sprache an der ETH Zürich. Mit Werken wie «Im Sommer des Hasen» (1965) oder «Albissers Grund» (1974) gehört Muschg zu den bedeutendsten Schriftstellern der Gegenwartsliteratur. Er lebt in Männedorf ZH und ist mit der Japanerin Atsuko Kanto verheiratet.
Adolf Muschg (84) ist einer der wichtigsten Schweizer Intellektuellen. Aufgewachsen in Zollikon ZH, wurde der Germanist zunächst Lehrer und später Professor für deutsche Literatur und Sprache an der ETH Zürich. Mit Werken wie «Im Sommer des Hasen» (1965) oder «Albissers Grund» (1974) gehört Muschg zu den bedeutendsten Schriftstellern der Gegenwartsliteratur. Er lebt in Männedorf ZH und ist mit der Japanerin Atsuko Kanto verheiratet.