BLICK: Carles Puigdemont verschiebt die Unabhängigkeitserklärung und unterbreitet Spaniens Zentralregierung ein Verhandlungsangebot. Ein vernünftiger Entscheid?
Oliver Diggelmann: Ich glaube, es ist in der jetzigen Situation keine schlechte Entscheidung. In der Sache ist es ein Rückzieher, wohl aufgrund der Einsicht, dass er nicht durchkommen wird. Denn es gibt völkerrechtlich kein Recht von Minderheitenvölkern, Staaten aufzusprengen. Sezessionen sind völkerrechtlich nur auf dem Verhandlungsweg zulässig.
Was wäre geschehen, wenn Katalonien gestern die Unabhängigkeit ausgerufen hätte?
Spanien hätte das nicht hingenommen. Es wäre vor der extrem schweren Aufgabe gestanden, die Ordnung mit möglichst wenig Gewaltanwendung aufrechterhalten zu müssen. Jede Gewalt birgt das Risiko, dass sich die Eskalationsspirale weiterdreht. Insbesondere, wenn es zu Toten kommt.
Muss die Zentralregierung von Mariano Rajoy nun auf das Verhandlungsangebot eingehen und Katalonien mehr Autonomie gewähren?Sie muss nicht. Es wäre aber langfristig klug, Herrn Puigdemont nicht mehr als nötig zu demütigen, den Gesichtsverlust klein zu halten. Zumindest kleine Zugeständnisse sind sicher möglich und würden wohl helfen, die Situation zu beruhigen. Spanien hat ein Interesse, eine gute Lösung zu finden, die nicht noch mehr Katalanen gegen die Zentralregierung aufbringt.
Welche Rolle kann die Schweiz bei diesen Gesprächen – wenn es sie denn gibt – spielen?
Mir ist nicht bekannt, dass man nach der Schweiz gerufen hätte. Wenn man sie aber fragt, könnte sie ihr Wissen im Umgang mit sprachlichen und kulturellen Minderheiten einbringen. Sie hat dazu viel zu sagen. Die schweizerische Staatskonstruktion ist in diesem Punkt eine gute Lösung für ein schwieriges politisches Problem.
Wie wichtig ist es für Spanien, dass seine Einheit gewahrt wird?
Die Stabilität Spaniens ist nicht nur für Spanien, sondern für ganz Europa wichtig. Ein dauernder Konflikt, möglicherweise unter Gewaltanwendung, wäre ein Desaster. Die politisch Verantwortlichen haben es in den Händen, dass es dazu nicht kommt.
Oliver Diggelmann (50) ist Professor für Völker- und Europarecht an der Universität Zürich.
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