90'000 Flüchtlinge sind im letzten Jahr in der Schweiz angekommen, der Grossteil davon aus der Ukraine. Die Kantone kommen langsam an ihre Kapazitätsgrenzen. Das geht dem Luzerner Sozialdirektor Guido Graf (64) nicht anders, wie er im Interview im stattlichen Regierungsgebäude in Luzern sagt. Mitte-Politiker Graf, der sich immer wieder pointiert zur Migrationspolitik äussert, macht sich Sorgen, dass die Solidarität in der Bevölkerung schwindet, und fordert Reformen.
Herr Graf, an Silvester kam es in Deutschland zu massiven Krawallen durch junge Ausländer. Ist so etwas in der Schweiz auch denkbar?
Guido Graf: Es ist unfassbar und aufs Schärfste zu verurteilen, dass Rettungsdienst-, Feuerwehr- und Polizeikräfte bei ihren Einsätzen angegriffen wurden. Solche Attacken müssen um jeden Preis verhindert werden. Die Täter müssen ohne Wenn und Aber hart bestraft werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich solche Ausschreitungen dereinst auch in der Schweiz zutragen.
Die Flüchtlingssituation spitzt sich auch hierzulande zu: Asylsuchende werden wieder schneller an die Kantone übergeben, es braucht zusätzliche Plätze, sogar die Armee bietet Unterstützung. Wie stellt sich die Situation in Luzern dar?
Die aktuelle Situation stellt zwar auch in der Schweiz eine grosse Herausforderung bezüglich Unterbringung und Betreuung von Personen aus dem Asyl- und Migrationsbereich dar. Jedoch ist die Situation in der Schweiz ruhig und nicht vergleichbar mit Deutschland. Wir haben derzeit im Kanton Luzern rund 6400 geflüchtete Personen untergebracht, ein Dorf in der Grösse von Beromünster. Das sind 65 Prozent mehr als im Vorjahr. Davon haben 2636 Personen den Schutzstatus S, 800 sind Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren. Das ist eine Kennzahl.
Guido Graf (64) ist seit zwölf Jahren Regierungsrat im Kanton Luzern. Seitdem leitet der studierte Bautechniker und Verbandsmanager das Gesundheits- und Sozialdepartement. Der passionierte Fischer ist verheiratet, Vater von drei Kindern und Luzerner durch und durch: Er wohnt in seinem Heimatort Pfaffnau, wo er auch aufgewachsen ist.
Guido Graf (64) ist seit zwölf Jahren Regierungsrat im Kanton Luzern. Seitdem leitet der studierte Bautechniker und Verbandsmanager das Gesundheits- und Sozialdepartement. Der passionierte Fischer ist verheiratet, Vater von drei Kindern und Luzerner durch und durch: Er wohnt in seinem Heimatort Pfaffnau, wo er auch aufgewachsen ist.
Was ist die andere?
Wir haben einen Leerwohnungsbestand von 1 Prozent und eine kantonale Arbeitslosenquote von 1,3 Prozent. Das heisst: Ich habe ein zusätzliches Dorf, aber keine Wohnungen und finde keine Betreuer für die Leute. Das hat zur Folge, dass wir notfallmässig Zivilschutzanlagen in Dagmersellen, Willisau und Luzern parat machen.
Welche Flüchtlinge bereiten Ihnen mehr Bauchweh: die Ukrainerinnen oder die oft männlichen jungen Asylsuchenden aus dem Rest der Welt?
Menschen aus der Ukraine sind teilweise fordernder als andere. Aber ich mache keinen Unterschied, wer woher kommt.
Nach Kriegsausbruch gab es eine riesige Welle der Solidarität mit den Ukrainern. Ist diese abgeflacht?
Die Solidarität ist immer noch da, das merke ich täglich. Aber wir müssen Sorge tragen, dass sie nicht kippt. Schauen Sie: In jeder Flüchtlingswelle kommen am Anfang nicht die Ärmsten oder Bedrohtesten, sondern jene, die es sich leisten können. Das führt natürlich zu Fragen in der Bevölkerung: Kommen da die Richtigen?
Das heisst?
Es führt zu grossem Unmut in der Bevölkerung, wenn Flüchtlinge mit dem SUV herumfahren und gleichzeitig Sozialhilfe erhalten. Auch andere Flüchtlingsgruppen verstehen nicht, dass sie kein Auto haben dürfen, die Ukrainer aber schon. Solche Unterschiede kann man nicht mehr erklären.
Diese Sonderbehandlung hängt mit dem S-Status für die Ukrainer zusammen. Muss man daran etwas ändern?
Es war völlig richtig, dass man den S-Status aktiviert hat, als Zehntausende Ukrainer plötzlich in der Schweiz standen. Wir hätten den Ansturm sonst gar nicht bewältigen können. Ich hätte mir gewünscht, dass der Bundesrat den Schutzstatus S nicht einfach so verlängert, sondern in der Umsetzung zentrale Anpassungen vornimmt.
Warum? Es herrscht noch immer Krieg in der Ukraine.
Aber der S-Status ist rückkehrorientiert. Man dachte, der Krieg sei nach wenigen Monaten vorbei und die Ukrainer würden wieder zurückkehren in ihre Heimat. Doch heute müssen wir ehrlich sagen: Das wird nicht passieren, der furchtbare Krieg wird leider länger dauern. Und selbst wenn er vorbei ist – zurückzugehen in ein zerstörtes Land ist nicht für jeden eine Option.
Was fordern Sie?
Wir müssen erstens dafür sorgen, dass die verschiedenen Flüchtlingsgruppen gleich behandelt werden. Und zweitens anfangen, die Ukrainer besser zu integrieren. Sie müssen eine Tagesstruktur bekommen, Deutsch lernen, eine Arbeit finden. So wie das jetzt aufgegleist ist, geht das aber nicht. Ich würde mir wünschen, dass das offizielle Bern hier schnell handelt.
Was soll Bern denn tun?
Die Kantone bekommen für die sprachliche Integration von Ukrainern 3000 Franken pro Person und pro Jahr. Für anerkannte Flüchtlinge, die Asyl erhalten haben, gibt es einmalig 18'000 Franken.
Sie wollen also einfach mehr Geld vom Bund. Einmal mehr.
Es geht nicht darum, dem Bund einfach Geld auszureissen. Die 18'000 Franken sind klug investiert: Wir haben einen eklatanten Fachkräftemangel – davon kann ich als Gesundheitsdirektor ein Lied singen. Warum schauen wir nicht, dass wir jene Menschen, die hier sind und wahrscheinlich bleiben werden, zu Fachkräften machen? Dann kommen die 18'000 Franken x-fach zurück. Das zeigt nur schon ein Blick auf die Zahlen: Von den vorläufig Aufgenommenen und anerkannten Flüchtlingen im Kanton Luzern arbeitet etwa jeder Zweite. Bei den Ukrainern mit Schutzstatus S beträgt die Erwerbsquote 20 Prozent, gesamtschweizerisch sogar nur 14 Prozent. Viel zu tief! Dabei liegt hier ein riesiges Potenzial. Viele wollen arbeiten. Aber ich finde auch: Alle sollen.
… und die Kantone würden Geld für Sozialhilfe sparen.
Stimmt. Aber ist es verboten, von der Aufnahme von Flüchtlingen zu profitieren, wenn das auch den Flüchtlingen nutzt? Denken Sie an die Jugendlichen: Warum lassen wir die hier keine Ausbildung machen? Wenn so jemand danach zurück in die Ukraine geht, haben wir etwas Gutes getan. Bleibt er, haben wir eine Fachkraft mehr.
Woran liegt es denn, dass so wenig Ukrainer arbeiten? An den Sprach- und Fachkenntnissen oder zögern die Arbeitgeber, jemanden anzustellen, der vielleicht schon bald zurückmuss?
Viele können weder Deutsch noch Englisch, und auch das Ausbildungsniveau ist tiefer als erwartet. Ärztinnen und IT-Spezialisten – wie gedacht – sind kaum darunter.
Angesichts des Fachkräftemangels: Müsste man nicht auch bei anderen Flüchtlingsgruppen mehr machen?
Das ist sicher ein Potenzial, das wir zu wenig nutzen. Es gibt Studien, die zeigen, dass Länder mit viel Einwanderung wirtschaftlich besonders florieren. Man muss es aber klug machen.
Wie macht man es klug?
Wir müssen viel mehr in Integration investieren. Klar ist das am Anfang teuer. Aber ich bin überzeugt: Wir profitieren davon. Angesichts des globalen Fachkräftemangels haben wir vermutlich bald gar keine andere Möglichkeit mehr.
Im Moment weht der politische Wind eher aus der anderen Richtung: Die SVP fordert, dass die Schweiz angesichts der hohen Asyl- und Flüchtlingszahlen gar niemanden mehr aufnimmt. Was sagen Sie dazu?
Das geht schon völkerrechtlich nicht und liesse sich auch nicht umsetzen. Wo die SVP recht hat: Europa hat bei der Migration versagt. Mein Vorschlag aber wäre ein anderer: Wir sollten vor Ort mehr tun, damit Menschen gar nicht erst flüchten müssen oder zumindest in ihrer Region bleiben können. Und wir sollten das Botschaftsasyl wiedereinführen. Aus drei Gründen: Wir würden erstens den Schlepperbanden das Handwerk legen. Zweitens könnte man die Asylmigration besser steuern: dass nur noch Menschen bei uns in der Schweiz Schutz erhalten, die wirklich verfolgt werden. Und drittens: Wir würden dafür sorgen, dass das Mittelmeer nicht ein noch grösserer Friedhof wird, als es jetzt schon ist.