Familiennachzug-Rekord trotz Asylgesuch-Rückgang
Wieso dieser Widerspruch, Frau Bundesrätin?

Völlig überraschend steigt die Zahl der Flüchtlinge an, die übers Mittelmeer nach Europa gelangen. Und obwohl die Asylzahlen sinken, ist der Familiennachzug von Asylbewerbern hierzulande so hoch wie lange nicht mehr. Asyl-Ministerin Simonetta Sommaruga (57, SP) nimmt Stellung.
Publiziert: 31.01.2018 um 10:51 Uhr
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Aktualisiert: 04.11.2018 um 19:51 Uhr
«Anerkannte Flüchtlinge haben Anspruch darauf»: SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga.
Foto: Valeriano Di Domenico
Interview: Nico Menzato

Frau Sommaruga, die Asylgesuchszahlensinken, doch der Familiennachzug boomt. So profitierten letztes Jahr 4208 Personen im Asylbereich vom Familiennachzug – ein Rekord. Erklären Sie uns diese widersprüchliche Entwicklung!

Simonetta Sommaruga: Das ist kein Widerspruch. Anerkannte Flüchtlinge können ihre Ehegatten und minderjährigen Kinder gemäss Gesetz in die Schweiz holen, wenn sie auf der Flucht von ihnen getrennt worden sind. Derzeit steigen die Gesuche für den Familiennachzug, weil vor allem 2015 mehr Flüchtlinge zu uns gekommen sind. Diese Flüchtlinge holen jetzt ihre Kinder zu sich. Was stimmt: Letztes Jahr hatten wir in der Schweiz so wenig Asylgesuche wie seit sieben Jahren nicht mehr.

Die SP-Bundesrätin gibt Auskunft zur aktuellen Flüchtlingslage.
Foto: Valeriano Di Domenico

Dann wird der Familiennachzug in den nächsten Jahren wieder abnehmen?

Sinkt die Zahl der Asylgesuche, wird sich das – auch hier zeitverzögert – auf den Familiennachzug auswirken. Aber sichere Prognosen gibt es nicht.

Der SVPist der Asyl-Familiennachzug ein Dorn im Auge. In einem Vorstoss verlangt sie, den Familiennachzug bei vorläufig Aufgenommenen für drei Jahre auszusetzen. Macht das Sinn?

Nein, schon jetzt sind die Kriterien für vorläufig Aufgenommene deutlich strenger als für anerkannte Flüchtlinge. Dazu gehört etwa eine Wartefrist von drei Jahren, bevor sie überhaupt einen Familiennachzug beantragen können.

Muss stattdessen der Familiennachzug allgemein eingeschränkt werden?

Nein. Anerkannte Flüchtlinge haben aufgrund der Flüchtlingskonvention grundsätzlich Anspruch auf den Nachzug ihrer engsten Familienangehörigen. Und bei vorläufig Aufgenommenen hat die Schweiz heute bereits eine sehr strenge Praxis. Weitergehende Verschärfungen hat das Parlament vor kurzem ausgiebig diskutiert und verworfen.

Lange war es ruhig, nun haben in den letzten Tagen Hunderte Flüchtlingeversucht, übers Mittelmeer nach Italien zu gelangen. Auf einen Schlag sind dramatische Bilder von unterkühlten Babys zurück. Wie erklären Sie sich diesen plötzlichen Anstieg?

Simonetta Sommaruga im Interview mit BLICK.
Foto: Valeriano Di Domenico

In den letzten Monaten gab es viel weniger Überfahrten. Und zum Glück sind auch weniger Menschen ertrunken. Aber uns war immer klar: Diese Situation kann sehr rasch ändern. Wie immer analysieren wir die Lage jetzt genau.

Auch aus der Türkei kommen Boote mit Flüchtlingen an. Funktioniert der umstrittene Deal mit der Türkei nicht mehr?

Die Vereinbarung funktioniert nur, solange sich beide Seiten daran halten. Dass sich die Türkei immer wieder Gedanken zum Umgang mit ihren 3,5 Millionen Flüchtlingen macht, war zu erwarten. Und es zeigt vor allem eins: Die Flüchtlingssituation in Europa ist nie definitiv.

Noch einmal zurück zur Schweiz. Ein Problem ist die mangelhafte Integration von Flüchtlingen. Was tun Sie dagegen?

Wir haben in den letzten Jahren einige Integrationshürden abgebaut: Arbeitgeber sollen dadurch einfacher einen Flüchtling anstellen können. Aber es gibt noch einiges zu tun. Deshalb bereiten wir derzeit gemeinsam mit den Kantonen eine umfassende Integrationsagenda vor. Bund und Kantone sind sich einig: Wer arbeitet, bezieht keine Sozialhilfe.

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