Europa-Frage blockiert Landesregierung
Eiszeit im Bundesrat

Die Landesregierung driftet auseinander. Der Druck im Europadossier lässt ihre inneren Konflikte eskalieren.
Publiziert: 23.09.2018 um 02:01 Uhr
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Aktualisiert: 02.10.2018 um 10:59 Uhr
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Im Bundesrat herrscht Eiszeit: Jedes Regierungsmitglied kämpft seinen eigenen Kampf.
Foto: Illustration: Lily Metzker
Simon Marti und Marcel Odermatt

Seit Wochen kaut der Bundesrat auf der Europafrage herum wie auf einem alten Kaugummi. Zahllose Gespräche und keine Einigung – im Gegenteil.

An einer der letzten Sitzungen fiel im Bundesratszimmer der wohl vernichtendste aller aktuell-politischen Vergleiche: Laut gut unterrichteten Quellen zog Justizministerin Simonetta Sommaruga (58, SP) Parallelen zwischen Ignazio Cassis (57, FDP) und US-Präsident Donald Trump (72). Wie in diesem wichtigsten Dossier noch eine Einigung herbeigeführt werden soll, ist derzeit offener denn je.

Dass die SVP-Bundesräte Ueli Maurer (67) und Guy Parmelin (58) bei jedem Schritt in Richtung Brüssel abseits stehen, überrascht kaum. Ein zweiter Graben trennt die FDP-Bundesräte von denen der SP. Ignazio Cassis und Johann Schneider-Ammann (66) fordern Kompromisse bei den Lohnschutz-Massnahmen – die Simonetta Sommaruga und Alain Berset (46) nicht zugestehen möchten. Zu klar haben Gewerkschaften und SP-Spitze gegen eine Aufweichung der flankierenden Massnahmen votiert.

Blockade in der Europafrage

Gegen SVP und SP hat ein Rahmenabkommen weder im Parlament noch beim Volk den Hauch einer Chance. Bundeshaus-Optimisten sind dennoch zuversichtlich: Am Freitag werden Beschlüsse gefasst. Der «Tages-Anzeiger» schrieb sogar, der Bundesrat könne nun die EU-Kohäsionsmilliarde überweisen.

Inhaltlich sei damit wenig gewonnen, heisst es aus dem Umfeld des Bundesrats. Man wolle die Gespräche fortsetzen. Der Abbruch sei eine denkbar schlechte Alternative, aber auch eine Einigung mit Brüssel sei nicht in Sicht.

«Als Mitglied der aussenpolitischen Kommis­sion fühle ich mich vom Bundesrat ungenügend informiert», sagt der Aargauer Ständerat und ehemalige FDP-Präsident Philipp Müller (66). «Wir wissen bis heute nicht genau, welche offenen Fragen noch zu verhandeln sind. Und das, obwohl seit fünf Jahren Gespräche geführt werden!»

Ärger über die FDP-Bundesräte

Weil es in der öffentlichen Debatte immer nur ums EU-Rahmenabkommen geht, spricht beispielsweise niemand darüber, dass Cassis auch in der Frage, ob erwerbslose Grenzgänger im Ausland mit Geldern aus der Schweizer Arbeitslosenkasse entschädigt werden sollen, keine Einigung mit Brüssel erzielt hat. Der Aussennminister hatte diese Forderung der EU vor Monaten als «rote Linie» bezeichnet.

«Mit ihren Provokationen haben die beiden FDP-Bundesräte innenpolitisch alles blockiert. Es wäre am Gesamtbundesrat, sie endlich zur Räson zu bringen», meint Grünen-Präsidentin Regula Rytz (56, BE). «Doch offenbar gibt es in der Regierung keine Mehrheit für eine verlässliche Verhandlungsstrategie mit der EU.»

Grabenkämpfe überall

Die Grabenkämpfe im Bundesratszimmer gehen über die Europa-Politik hinaus. Sommarugas Vergleich von Cassis mit Trump zeigt: Die Auseinandersetzung wird persönlich. Wie bereits im Fall von Johann Schneider-Ammann. Die «Schweiz am Wochenende» berichtete, der Berner sei bei Sitzungen des Bundesrats eingenickt. Wie funk­tionstüchtig ist eine Exekutive, aus deren Mitte solche Berichte stammen?

«Die Landesregierung ist ein zerrüttetes Gremium», lautet die Diagnose von Regula Rytz. Jedes Mitglied kämpft auf eigene Rechnung: Doris Leuthard (55) etwa gegen das Image der lahmen Ente, Ueli Maurer gegen die eigene Partei.

Die Einigung über das Rahmenabkommen wäre da ein Befreiungsschlag. Vertreter von FDP und SP hoffen, dass sich die Gewerkschaften in letzter Minute besinnen. Das Ziel sei doch schon in Sichtweite, so ihr händeringendes Plädoyer.

Die SVP betrachtet all dies mit Zufriedenheit. «Die jetzige Situation im Bundesrat gefällt mir gut», sagt Parteipräsident Albert Rösti (51, BE). «Solange die Landesregierung blockiert ist, gibt es kein Rahmenabkommen. Und somit auch keine automatische Übernahme von EU-Recht. Das ist gut für die Schweiz!»

Es ist der Jubel darüber, dass die Exekutive in der gegenwärtigen Zusammensetzung definitiv an ihre Grenzen stösst.

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