Schweizer Buchpreis
Dorothee Elmiger: Zuckersüchtig im literarischen Labyrinth

Verwirren und zum Weiterdenken anregen will Dorothee Elmiger ihre Leserschaft. So bietet ihr Buch «Aus der Zuckerfabrik» statt eines erzählerischen Plots eine Vielzahl an losen Fäden zum Thema Hunger und Begehren.
Publiziert: 07.11.2020 um 11:00 Uhr
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Aktualisiert: 07.11.2020 um 11:57 Uhr
Dorothee Elmiger ist eine Autorin, die es ihren Leserinnen und Lesern nicht leicht macht. Das gilt auch für ihren jüngsten Text "Aus der Zuckerfabrik", mit dem sie für den Schweizer Buchpreis nominiert ist.
Foto: GAETAN BALLY

Dorothee Elmiger ist eine Autorin, an der sich die Geister scheiden. Das spricht für ihre Texte, die ganz offensichtlich niemanden kalt lassen. Die Spaltung der Leserschaft in zwei Lager ist nicht neu: Hier die grösstenteils begeisterten Kritikerinnen und Kritiker, dort ein mehrheitlich ratloses, zuweilen verärgertes Publikum.

Die einen schätzen die Autorin als Avantgardistin, welche neue literarische Wege beschreitet, sprachlich leichtfüssig und den Rucksack vollgepackt mit klassischer Bildung. Die anderen suchen in ihren Büchern vergeblich den berühmten Faden der Ariadne.

Tatsächlich mutet Elmigers aktuelles Buch «Aus der Zuckerfabrik» labyrinthisch an. Sie selber nennt es eine «Recherche» und präsentiert Ergebnisse zum Fall des ersten Schweizer Lottomillionärs, zur Sklaverei auf Haiti, dem Hunger der Armen oder den psychiatrischen Gutachten über Ellen West, die Magersucht-"Pionierin» des 19. Jahrhunderts.

Effektbewusst montiert die Autorin Material aus Archiven und dem digitalen Datenstrom zu einem Gebilde, aus dem man pickt, was einen Moment Aufmerksamkeit verdient - etwa die schwarzen Samen, die im süssen Fruchtfleisch einer Papaya «zutage liegen». Verführerisch, wie die Erzählerin hier ihr eigenes, wollüstiges Essen beschreibt. Nur: Wohin führt dies? Warum endet soviel Angefangenes in einer Sackgasse? Wo ist der Ausgang?

«Ich denke, dass literarische Texte es uns im besten Fall ermöglichen, gängige Erzählungen zu hinterfragen, alte Geschichten neu zu erzählen, die Verhältnisse neu zu sehen, zu erfahren; und uns zu verwirren, wenn die Dinge allzu klar zu sein scheinen.» So antwortet Dorothee Elmiger gegenüber Keystone-SDA auf die Frage nach der Funktion der Literatur. Allzu klar scheinen zur Zeit nicht viele Dinge zu sein, möglicherweise bildet «Aus der Zuckerfabrik» genau dies ab.

Mit ihrem dritten Buch ist die 35-Jährige aus dem Appenzellerland für den diesjährigen Schweizer Buchpreis nominiert. Auch für den Deutschen Buchpreis hatte sie es auf die Shortlist geschafft. Doch: Warum soll man dieses Buch lesen? « 'Soll' klingt mir zu imperativ», antwortet Elmiger, «der Text ist eine Einladung, die angenommen oder abgelehnt werden kann. Ob sie dieses Buch lesen wollen, das müssen die Leserinnen und Leser selbst rausfinden - indem sie es zur Hand nehmen und aufschlagen.»

Dorothee Elmigers Stoff stammt aus dem realen Leben. Fiktion interessiert die Autorin nicht. Vielmehr treiben sie Fragen um, die sich aufdrängen, wenn man das Gängige nicht einfach als gottgegeben annimmt. Wie, zum Beispiel, hängt unsere Zuckersucht mit der europäischen Kolonialgeschichte zusammen? Liest man «Aus der Zuckerfabrik» mit dieser Frage im Kopf, erschliesst sich ein ganz neuer Text.

Ist es solche vielfältige Lesbarkeit, die Dorothee Elmigers Literatur leisten will? «In meinen Augen muss Literatur vor allem ihr Material ernst nehmen und sich auf ernsthafte Weise mit den Fragen auseinandersetzen, die es aufwirft», meint sie, nicht auf ein Zielpublikum bezogen, sondern auf den eigenen Schreibprozess.

Und so bekommt die Leserin, wie schon Hänsel und Gretel, keinen hübsch aufgerollten Ariadne-Faden in die Hand gedrückt, um aus dem Labyrinth wieder herauszufinden. Die beiden Märchenfiguren streuten auf ihrem Weg Brotkrumen aus. Bei Dorothee Elminger bietet sich grob raffinierter Zucker an. Damit kann man sich die Suche versüssen und sich beim Lesen zumindest an den eigenen Interpretationen orientieren.

Schon Elmigers Debüt «Einladung an die Waghalsigen» (2010) und der Zweitling «Schlafgänger» (2014) waren eher essayistisch als erzählerisch komponiert. Auch sie waren für den Schweizer Buchpreis nominiert - alle drei Bücher also, welche die Autorin bisher geschrieben hat. Ist dabei der Erwartungsdruck, unter dem so viele Schreibende leiden, gestiegen? «Meine Texte gelten ja als mühsam und schwierig», stellt Dorothee Elmiger fest, «ausgehend von dieser Erwartungshaltung habe ich alle Freiheiten, die ich mir wünsche.»*

*Dieser Text von Tina Uhlmann, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt- Stiftung realisiert

(SDA)

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