Lieber Jürg
Es lag so viel zwischen uns, dünkte es mich, als wir uns das erste Mal trafen. Ich, 21 Jahre jung, soeben meine erste Festanstellung angetreten, und du, die geballte Ladung Lebenserfahrung. Seitdem sind acht Jahre vergangen, und du hast mich durch die Jahre nicht nur als Mitkolumnist begleitet, sondern dientest mir als weiser Begleiter durch meine Zwanziger. Ich bin untröstlich ...
Ich habe immer zu dir hochgeschaut und hatte immer Hochachtung davor, wie du auf die Welt und auf unsere Gesellschaft geblickt hast: Du hast nie geurteilt, warst nie zynisch und hast es immer geschafft, mir eine optimistische und kluge Sicht auf die Dinge zu vermitteln. Älterwerden in Würde, mit klarem Kopf, offenem Geist und vor allem mit offenem Herzen sind Eigenschaften, die ich dir abschauen will.
Was einst als Kolumnen-Experiment begann, wurde für mich zu einem wöchentlichen Lehrstück. Ich habe mit der Zeit nicht mehr nur Fragen gestellt, um Zeitungsspalten zu füllen. Ich habe dich als Ratgeber und Begleiter gebraucht und geschätzt. Deine Lebensansichten waren stets mit so viel Charme und Intellekt gespickt, dass es eine Schande gewesen wäre, sie anderen vorzuenthalten. Du hast mit einer Leichtigkeit auf das Leben geblickt, die ich uns allen wünsche. Ich erinnere mich: Als ich meine erste Entlassung erlebte, warst du der Erste, den ich auf meinem Nachhauseweg antraf. Und ich erinnere mich, wie du mit einer Lässigkeit meintest: «Ach. Die brauchst du nicht.» Und tatsächlich haben mich deine Worte und deine Zuversicht beruhigt. Du hast immer Ruhe in meine Gedanken gebracht und hast sie mit sorgfältig gewählten Worten für mich sortiert.
Ich habe immer zu dir hochgeschaut. Das gedenke ich auch weiterhin zu tun. Älterwerden und alt sein bedeutet nicht, am Rande der Gesellschaft zu stehen, hast du mich gelehrt. Älterwerden und alt sein bedeutet nicht, nicht mehr gehört zu werden. Älterwerden und alt sein sind dann ein Geschenk, wenn man die Zeit so nutzt, wie du es vorgelebt hast. Wenn man sich einen reichen Bildungsschatz angeeignet hat, den man weitergeben und teilen kann. Altwerden hat nichts mit Verbitterung zu tun, habe ich von dir gelernt, denn Altwerden ist der Beginn einer sanfteren und gnädigeren Sichtweise.
Lieber Jürg, es war mir eine ausserordentliche Ehre. Deine Worte werden fehlen.
Joëlle
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