Er steht da. Umgeben vom Weiss. Mit ausgestreckten Armen. Wie ein Prediger am geweihten Ort. Alle Finger zeigen nach oben. Durch einen Spalt ist Blau zu sehen. Der Himmel über New York. Dieser Spalt wird in Zukunft einmal pro Jahr geöffnet. Zu jenem Datum, das im Gedächtnis der Welt als Zahlenfolge für immer eingebrannt ist: 9/11.
Zwischen 8.46 Uhr und 10.28 Uhr fällt dann, sofern die Sonne scheint, das Licht hinein und ergiesst sich auf den weissem Marmor des Bodens. Es ist der Zeitraum zwischen dem Einschlag des von Terroristen gesteuerten Jets im ersten Tower des World Trade Center – bis zu jenem Augenblick, als der zweite in Schutt und Asche fiel.
«Ein Keil des Lichts. Ein fast sakrales Erlebnis», verspricht Santiago Calatrava, der spanisch-schweizerische Architekt, der neben dem neuen U-Bahnhof Path am Ground Zero die dazugehörende Halle vollendet, den «Oculus». Seine Worte kämpfen gegen den Lärm der Schweisser an, die nun, knapp drei Wochen vor der Eröffnung, letzte Nähte abschleifen.
Auch für ihn ist der siebte Bahnhof seines Architektenlebens von grosser Symbolkraft. Hier verschmelzen die Linien seines Wirkens. Es steckt der Junge darin, der im Spanien des Diktators Franco aufgewachsen ist, in Valencia, jener Stadt, die im Bürgerkrieg die Fahne der Repub-lik länger hochhielt als jede andere im Land. Wo es diesen wunderbaren Nord-Bahnhof aus dem Jahr 1917 gibt, erbaut unter dem Einfluss des Wiener Jugendstils, der Secession. Calatrava hat ihn als Jugendlicher fasziniert gezeichnet.
Da ist die Mutter, die ihn früh aus der bleiernen Enge der Franco-Zeit nach Frankreich zum Sprachstudium schickt. Da ist der Vater, der ihm den Prado in Madrid zeigt, aber auch die islamische Baukunst: die Mezquita in Córdoba, die Alhambra in Granada, eine Architektur, deren Exaktheit ohne die hohe Kunst der Mathematik nicht denkbar wäre – und die Calatrava noch heute Worte der Bewunderung entlockt: «Ich liebe diese Kuppeln, den Rhythmus der Formen, die arabische Kalligrafie.»
Es ist der Pfad, auf dem Calatrava auch in seinem beruflichen Werden lustwandelt. In seiner Heimatstadt studiert er Kunstgeschichte und Architektur, gelangt 1975, dem Jahr, als Franco stirbt, an die ETH in Zürich, studiert Bauingenieurswesen, promoviert über das Thema: «Zur Faltbarkeit von Fachwerken.»
Nun ist alles drin in diesem Kopf – die Kunst, die Architektur, das Wissen des Ingenieurs – und ein erstes Mal entlädt sich die geballte Kraft, die Calatrava daraus schöpft, am Bahnhof Stadelhofen in Zürich. Die schrägen Stützen lassen manche auf Anleihen bei seinem Landsmann Antoni GaudÍ tippen. Sie liegen freilich falsch, denn Calatrava liess sich vom alten Walensee-Tunnel inspirieren, der einmal in einer ETH-Vorlesung Erwähnung fand. Als in Spanien die Demokratie jungfräulich ist, gewinnt er einen Wettbewerb seiner Geburtsstadt. Es entsteht das Wahrzeichen Valencias, dessen Name wie angegossen auf Calatravas Arbeitsstil passt: «Ciudad de las Artes y de las Ciencias.»
Künste und Wissenschaften – Zürich – Valencia – New York: Wie sehr dieser Mann für seine Sache brennt, wird zur Gänze erst in Manhattan erfahrbar, an der Park Avenue, neben dem Hauptwohnsitz in Zürich, seinem zweiten Domizil. Besonderes hinter dem schlichten Eingang verheisst lediglich das in Metall gegossene Emblem von vier stilisierten Lilien: das Wappen des Ritterordens der Calatravas, seit 1270 in Valencia ansässig, das der Architekt auch im Briefkopf führt.
Die Türe öffnet sich auf ein Universum der Kreativität: minimalistisch-filigrane Kuben, bei näherer Betrachtung stilisierte Wirbelsäulen, hergestellt in den 70er-Jahren in der Schweiz. An den Wänden bunte, lamellenartige Exponate, die sich als bewegliche Oberflächen entpuppen. Im Untergeschoss riesige Holzkonstruktionen, die Dinosaurier-Gerippen gleichen und trotz minimaler Bodenhaftung unverrückbar dastehen. Die Prototypen wurden in der Schweiz auf Papier gezeichnet und hier am Hudson, im Atelier nebenan, in endloser Schreinerarbeit zu Holz.
Im privaten Raum seines Hauses offenbart Calatrava, was sein Schaffen im Innersten zusammenhält: die Symbiose von Kunst, Architektur und Ingenieursgeist, den drei Quellen, aus der sich auch die Magie speist, die von der neu erstellten Path Station ausgeht.
Wer sehen will, der sieht dort eine Kunst, die bereits in den filigranen Miniaturen aus den 70er-Jahren angelegt ist. Wer sehen will, der erfasst, dass die der Natur entlehnten lamellenartigen Trägerstrukturen ohne präzises Ingenieurswissen in diesen Abmessungen nicht zu realisieren wären. Wer sehen will, der erkennt, dass diese Architektur im wiederauferstandenen World Trade Center eine ornamentale Aura entfaltet.
Und wer all das nicht sieht, der spürt immerhin, dass Santiago Calatrava mit diesem Bauwerk erneut ein Bahnhof gelungen ist, der die Sinne anregt. Der Bahnhof Nummer sieben auf dem Grund einer Tragödie: ein Werk für die Ewigkeit.