Seit Wochen steht das Buch ganz oben auf den Bestsellerlisten, in den Buchhandlungen wurde es vor Ostern prominent ausgelegt: «Der Skandal der Skandale. Die geheime Geschichte des Christentums».
Verfasst hat den Verkaufsschlager Manfred Lütz, Psychiater, Theologe, einst enger Vertrauter von Papst Johannes Paul II., heute Mitglied der Päpstlichen Akademie für das Leben und damit Berater von Papst Franziskus. Wobei der Autor vorgibt, lediglich eine Readers-Digest-Version von «Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert» geschrieben zu haben, einer 800-Seiten-Abhandlung des Historikers Arnold Angenendt.
Bloss stimmt das nicht. Denn während Angenendt differenziert, greift Lütz zum Zweihänder. Der Skandal im Titel des Buches besteht für ihn darin, dass die Kirche immer nur schlecht gemacht wird. Dagegen zieht er jetzt zu Felde.
Als besonders unrühmliches Kapitel in der Geschichte des Katholizismus gilt die mittelalterliche Inquisition. Wie viele Menschen ihr zum Opfer gefallen sind – darüber gibt kein seriöser Historiker Auskunft; zu unsicher ist die Quellenlage. Fest steht indes: Bei der Überführung angeblicher Ketzer setzten die Inquisitoren systematisch auf die Folter. Der Rechtshistoriker Alexander Ignor nennt die «entfesselte Brutalität und Grausamkeit» das bedrückende Merkmal der Inquisition.
Manfred Lütz aber feiert die Inquisition als Fortschritt in der Rechtsprechung. Schliesslich hätten die weltlichen Gerichte mehr Menschen ins Jenseits befördert als die kirchlichen. Eine zynische Verteidigungsstrategie ganz nach dem Motto: Ich nicht, er auch.
Es kommt noch schlimmer. Lütz insinuiert, dass manches Opfer der Inquisition sein Schicksal selbst verschuldete. Giordano Bruno etwa, der als Ketzer verurteilt und am 17. Februar 1600 verbrannt wurde. Manfred Lütz schildert Giordano Bruno als Polemiker, der «gar kein Naturwissenschaftler» war, sondern ein «psychisch nicht unauffälliger Mensch». Klar, dass so einer den Tod auf dem Scheiterhaufen verdient hat.
Galileo Galilei wiederum – ihn zwang die Inquisition 1633 zum Widerruf seiner vermeintlichen Irrlehren – ist bei Lütz ein Lügner und Hochstapler.
Dabei ist diese menschenverachtende Argumentation nicht einmal originell. Im Gegenteil.
In Thomas Manns «Zauberberg» gibt es eine Figur namens Leo Naphta. Sie ist das Ärgernis in diesem Roman. Naphta ist die misslungene Karikatur eines Jesuiten – übertrieben diabolisch und voll antisemitischer Klischees: Naphta, der schlechte Christ, ist als Jude auf die Welt gekommen.
Jedenfalls lobt auch Leo Naphta an einer Stelle Inquisition und Folter als positive Entwicklungen in der Rechtsgeschichte. Hätten die Gerichte in der Vorzeit Willkür walten lassen, sei es den Inquisitoren darum gegangen, vom Angeklagten wenigstens ein Geständnis zu erlangen. Schöner Fortschritt!
40'000 Exemplare von «Der Skandal der Skandale» sind im deutschsprachigen Raum innert weniger Wochen verkauft worden. Doch natürlich ist dieser persönliche Erfolg des Vatikan-Beraters Manfred Lütz kein Segen für die Kirche.
Vielmehr fragt man sich: Steht es um die Kirche schon so schlecht, dass sie ein solches Buch braucht, um sich ins Gespräch zu bringen?