Hundert Jahre Landesstreik: Das ist eine Gratisparty für die Linke. Man braucht bloss die Forderungen nachzulesen, die sich die 250000 Streikenden in jenem fernen November 1918 auf die Fahnen geschrieben hatten. Verlangt wurden unter anderem eine Alters- und Invalidenversicherung, das Frauenstimmrecht sowie die 48-Stunden-Woche.
Welcher halbwegs aufgeschlossene Zeitgenosse würde solche Anliegen heute nicht mittragen?
Hinzu kommt: Viele Bürgerliche befürchteten damals zwar einen blutigen Staatsstreich. Tatsächlich aber war Waffengewalt für die Streikenden keine ernsthafte Option.
Wenn schon, dann war es die Armeespitze um den reaktionären General Ulrich Wille, welche die gewaltsame Konfrontation mit der Arbeiterschaft suchte. So bereitete der Kommandant der Ordnungstruppen in der Stadt Zürich, der spätere Nazi-Führer Emil Sonderegger, seine Leute nur allzu freudig auf den Einsatz von Handgranaten vor.
Dennoch will Christoph Blocher die Jubiläumsstimmung von SP und Gewerkschaften stören. Während die Linke den Streik feiert, lädt der SVP-General für Mitte November zum Gegenanlass.
Worum es ihm geht, hat Blocher kürzlich in einem Vortrag klargemacht: Er will den Streik zum bolschewistischen Umsturzversuch stempeln.
Das ist pure Polemik. Es ist die Polemik des Ulrich Wille.
Blocher versucht die Streikenden aufgrund einiger Aussagen der streitbaren Arbeiterikone Robert Grimm kollektiv schlecht zu machen. Dieser personelle Kurzschluss ist in etwa so legitim, wie wenn man Christoph Blocher für die Deutschtümelei seines berühmt-berüchtigten Grossvaters Eduard Blocher verantwortlich machen wollte – nämlich gar nicht.
So fragwürdig Christoph Blochers Absichten sind, er hat zumindest einen Punkt: Der November 1918 hätte in der Tat eine Geschichtsschreibung verdient, die über eine Fixierung auf den Streik und die legitimen Forderungen der Arbeiterschaft hinausgeht.
Das einschneidendste Ereignis jener Tage war nicht der Generalstreik. Es war die Spanische Grippe.
Zwischen Juli 1918 und Juni 1919 forderte die Epidemie in der Schweiz bis 50000 Tote, 1,3 Prozent der Bevölkerung! Die Opfer waren mehrheitlich 20 bis 40 Jahre alt – Frauen und Männer im besten Alter. Nie in der Geschichte des Bundesstaates ereignete sich Schrecklicheres.
Entsprechend tief hat sich diese Katastrophe im kollektiven Gedächtnis festgesetzt. In merkwürdigem Kontrast dazu hat die Geschichtswissenschaft das Thema bisher links liegen lassen.
In den letzten Jahren wurde eine Reihe eigentlich grossartiger Bücher über die Geschichte der Schweiz im
20. Jahrhundert publiziert. Die Grippe aber war keinem Autor mehr als ein paar dürre Zeilen wert. Man fokussiert derart auf die politischen Akteure, dass die Kranken und die Pflegenden, die Toten und ihre Angehörigen vergessen gehen.
Dabei ist es unvorstellbar, dass ein solches Massensterben das Denken und Handeln der Menschen nicht geprägt haben sollte. Aus anderen Ländern wissen wir, wie sehr die Grippe die Religiosität beflügelte. Und dass das Abebben der Epidemie zu einem steilen Anstieg der Geburtenrate führte. In der Schweiz jedoch hat sich noch kein Historiker umfassend mit solchen Aspekten auseinandergesetzt.
Wenn es also unbedingt einen anderen Blick auf 1918 braucht, dann bitte schön einen auf die Menschen! Was es nicht braucht, ist ein Neuausheben alter Schützengräben.