Dem Zürcher «Tages-Anzeiger» gelang diese Woche ein bemerkenswerter Titel: «Nicht studiert und trotzdem Bundesrat.» Das klingt sachlich, doch im Wörtchen «trotzdem» steckt der Teufel. Das Adverb kennzeichnet eine Ausnahme, oder umgekehrt – den Normalfall: Wer sich anschickt, Bundesrat zu werden, hat in aller Regel studiert, sollte zumindest studiert haben. Alles andere ist irregulär.
Wird die St. Galler Freisinnige Karin Keller-Sutter gewählt, droht der eidgenössischen Landesregierung demnach eine irreguläre Mehrheit von vier Trotzdem-Mitgliedern. Die diplomierte Übersetzerin hat nicht studiert, ebenso wenig wie Ueli Maurer (Kaufmann), Guy Parmelin (Landwirt) und Simonetta Sommaruga (Konzertpianistin).
Es ist noch gar nicht so lange her, da gab es Einwände gegen Adolf Ogi, Direktor des Schweizerischen Skiverbandes, Generaldirektor des Sportartikelhändlers Intersport, der vor seinem Einzug ins höchste Exekutivamt des Landes lediglich Primarschule und Oberstufe besucht hatte. Die «Neue Zürcher Zeitung» mäkelte an seinem Schulsack herum, doch der SVP-Mann aus Kandersteg wurde ein sehr fähiger, vor allem ein sehr effizienter, weil zupackender Bundesrat.
Einige Jahre zuvor war die berufliche Herkunft des Sozialdemokraten Willi Ritschard ein Thema. Seine Ausbildung: Heizungsmonteur. Aus dem vortrefflichen Solothurner Regierungsrat wurde ein vortrefflicher Bundesrat, ein «Arbeiterbundesrat», wie man ihn zu bezeichnen pflegte. Vor allem wurde aus Ritschard ein Bundesrat breitester Beliebtheit – der Regierer aus dem Volk.
Warum aber stellt der «Tages-Anzeiger» jetzt noch einmal ausdrücklich fest: «Jeder Lebenslauf ist erlaubt, das Regieren sollte unbedingt allen Bürgerinnen und Bürgern offenstehen, Arbeitern wie Professoren»?
Die beschwörende Formulierung verrät Unsicherheit.
Eine Demokratie ohne offenen Zugang zur Demokratie wäre keine Demokratie.
In der Tat klingt, was selbstverständlich ist, heute nicht mehr so ganz selbstverständlich: Politik ist zur Herrschaftssphäre der Studierten geworden, nicht zuletzt auf Seiten der Linken, wo eigentlich ganz normale Bürgerinnen und Bürger die Interessen ganz normaler Bürgerinnen und Bürger vertreten sollten.
Doch, doch – deren Interessen werden immer noch vertreten, aber eben: durch Vertreter, vornehmlich durch Studierte. Die deutsche Autorin Birgit Kelle erfand dazu die Formel: «Vom Kreisssaal in den Hörsaal in den Ratssaal.»
Die Karriere ersetzt den Lebenslauf.
Ist mit den Studierten wenigstens das Bildungsniveau in der Politik gesichert? Auffällig häufig sind Politik-Akademiker Juristen; gebildet müssen sie dazu nicht sein. Oder sie sind Betriebswirtschafter, in den Hörsälen von St. Gallen ausgebrütet; Bildung ist nicht vonnöten.
Unübersehbar ferner all die Soziologen-Politologen-Ökologen, des linken Jargons mächtig, in der Regel mehr Bildungssimulanten als Bildungsbürger.
Man ist versucht, dem studierten Politik-Personal die Frage zu stellen: «Wer von euch hat schon mal gearbeitet?» Wobei einzuräumen wäre: Fünf Paar auf Hörsaalbänken durchgescheuerte Designerjeans dürfen für die jüngste Politikergeneration von der Universitäts-Rutschbahn schon als Leistung gelten.
Nur wird dieser Tage gerade das zum Problem: dass in den Ratssälen das Leben fehlt, das Leben der praktizierenden Arbeitnehmer aus den modernen technischen Branchen, aus der digitalen Welt oder aus der mühevollen Wirklichkeit der Krankenpflege und aus der Stresszone der Verkaufsberufe.
Ja, wo sind sie, die arbeitenden Arbeiterinnen und Arbeiter? In der Politik sind sie jedenfalls nicht. Dort sitzen vornehmlich solche, die sich als Interessenvertreter der lebensechten Arbeitsbürger inszenieren – Repräsentanten nur, Abbilder.
Und nun also: ein Bundesrat mit einer Mehrheit von Mehrheitsmenschen, also von Nichtstudierten? Das ist doch wunderbar, wenngleich Wunder auch von diesem Personal nicht zu erwarten sind – aber vielleicht doch wenigstens ein wenig mehr Bodenstand.