Im März war Recep Tayyip Erdogan sauer auf den BLICK. Die Schweizer Zeitung hatte sich erdreistet, einen Aufruf zu veröffentlichen: «Liebe Türkinnen und Türken in der Schweiz, stimmt Nein zu Erdogans Diktatur!» Gemeint war die neue Verfassung, die dem türkischen Präsidenten enorme Machtbefugnisse zumisst. Der Aufruf kam nicht aus heiterem Himmel: Erdogan und seine Minister machten zu jener Zeit hemmungslos Abstimmungskampf in Deutschland und in der Schweiz.
Doch das hinderte den gekränkten Präsidenten nicht, BLICK Lektionen in Sachen Pressefreiheit zu erteilen: Nicht nur sei der Aufruf beleidigend und irreführend, es sei auch absolut nicht akzeptabel, «unsere Bürger dazu aufzurufen, ihre Stimme in eine klar gegebene Richtung abzugeben». Das sei «feindselige Propaganda» und eine «Respektlosigkeit» gegenüber Erdogan, die man wiedergutmachen müsse.
Nun, das war im März. Fünf Monate später sieht derselbe Erdogan offenbar alles anders. Oder wie soll man sich erklären, dass er Deutschlands türkischstämmige Wähler gestern nach dem Freitagsgebet dazu aufrief, bei der anstehenden Bundestagswahl nicht CDU, SPD oder die Grünen zu wählen. Das seien alles «Feinde der Türkei», erklärte Erdogan. Ihnen die Stimme zu verweigern, sei «eine Frage der Ehre».
Offensichtlich ist es keine Frage der Einmischung. Was Präsident Erdogan sich im März vom BLICK verbat, findet er offenbar im August gegenüber Deutschlands Politikern, namentlich Bundeskanzlerin Angela Merkel, kein Problem. Vielleicht ist das eine jener neuen präsidialen Privilegien in der türkischen Verfassung: Scheinheiligkeit.