Riesiger Andrang bei Türkei-Abstimmung
Erdogan spendiert Taxi zur Urne

Fast vierzig Prozent mehr Abstimmende als bei den Parlamentswahlen: Das Referendum zur neuen türkischen Verfassung lockt die Auslandtürken in Scharen an die Urnen.
Publiziert: 29.03.2017 um 23:43 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 15:42 Uhr
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Abstimmungslokal in der türkischen Botschaft in Bern.
Foto: PETER KLAUNZER
Peter Hossli

Die Zukunft ihrer Heimat bewegt die Türken in Europa. Seit Montag und noch bis 9. April stimmen weltweit 2,8 Millionen Auslandtürken über die umstrittene Reform ihrer Verfassung ab.

Nach den ersten Tagen zeichnet sich eine hohe Stimmbeteiligung ab. Allein am Montag gingen in den grossen europäischen Ländern 37 Prozent mehr Türken an die Urnen als noch im Herbst 2015 am ersten Tag der türkischen Parlamentswahlen.

BLICK liegen Zahlen vor: 37’502 Türken stimmten am ersten Tag in Deutschland, Frankreich, der Schweiz, Belgien, Österreich und Dänemark ab. Das sind rund 10’000 mehr als 2015.

Starke Zunahme

In der Schweiz können Türken in Bern, Genf und Zürich ihre Stimme abgeben. Im Konsulat in Zürich gingen am Montag 1201 Türken an die Urne – im Vergleich zu rund 900 bei den Parlamentswahlen 2015. Am Dienstag waren es in Zürich 1624, «fast doppelt so viele wie vor zwei Jahren», sagt ein türkischer Wahlbeobachter, der anonym bleiben möchte, zu BLICK. «Wir verzeichnen eine starke Zunahme gegenüber den Parlamentswahlen. Noch lässt sich nicht sagen, ob die Stimmbeteiligung am Schluss tatsächlich höher liegen wird.»

37’502 Türken stimmten am ersten Tag in Deutschland, Frankreich, der Schweiz, Belgien, Österreich und Dänemark ab.
Foto: Keystone

Bei der Verfassungsreform sind die Urnen 14 Tage offen, bei den Parlamentswahlen waren es 18 Tage. Dafür sind die Abstimmungslokale in der Schweiz bis 21 Uhr statt bis 19 Uhr geöffnet. Um den grossen Andrang zu bewältigen, werden am Wochenende in Zürich fünf statt vier Wahlkabinen in Betrieb sein.

«Solche Unterstützung fehlt uns»

Zumindest in den ersten Tagen waren die Anhänger von Präsident Recep Tayyip Erdogan (63) besser organisiert. «Es ist offensichtlich, dass die Befürworter des Referendums finanzielle und personelle Unterstützung der AKP erhalten», sagt der schweizerisch-türkische Wahlbeobachter und Gegner der neuen Verfassung, Hakan Parlak (42). «Solche Unterstützung fehlt uns.»

Die AKP-Vertreter rufen registrierte Wähler an und fragen, wie sie abstimmen wollen. Sagt einer Nein, hängen sie sofort auf. Bei einem Ja für die neue Verfassung bieten sie einen Fahrdienst an – und transportieren die Stimmenden mit Bussen und Taxis kostenlos zur Urne.

Darüber stimmen die Türken heute ab

Die Regierungspartei AKP um Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan (63) bringt ihre umstrittene Verfassungsreform vor das Volk. Konkret: Das Parlamentssystem der Türkei soll in ein Präsidialregime umgewandelt werden. Kommt die Vorlage durch, wird Erdogan nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef sein. Erdogan könnte Minister nach eigener Lust und Laune ernennen, das Parlament auflösen und bei der Besetzung der Gerichte mitreden. Gleiches gilt auch für Rektoren an den Universitäten.

Kommt das Referendum durch, könnte die Regierung auch nicht mehr mittels eines Misstrauensvotums abgesetzt werden. Gesetzesvorhaben des Parlaments liessen sich mit einem simplen Veto blockieren. Nach Angaben der AKP sollen die Bestimmungen das Land stabilisieren – die Opposition fürchtet hingegen eine Diktatur.

Die Regierungspartei AKP um Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan (63) bringt ihre umstrittene Verfassungsreform vor das Volk. Konkret: Das Parlamentssystem der Türkei soll in ein Präsidialregime umgewandelt werden. Kommt die Vorlage durch, wird Erdogan nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef sein. Erdogan könnte Minister nach eigener Lust und Laune ernennen, das Parlament auflösen und bei der Besetzung der Gerichte mitreden. Gleiches gilt auch für Rektoren an den Universitäten.

Kommt das Referendum durch, könnte die Regierung auch nicht mehr mittels eines Misstrauensvotums abgesetzt werden. Gesetzesvorhaben des Parlaments liessen sich mit einem simplen Veto blockieren. Nach Angaben der AKP sollen die Bestimmungen das Land stabilisieren – die Opposition fürchtet hingegen eine Diktatur.

Das würde sich bei einer Annahme des Referendums ändern
  1. Erdogan wird Staats- und Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten und der Ministerrat werden als eigenständige Organe abgeschafft.
     
  2. Der Präsident darf neu einer Partei angehören und dieser vorsitzen.
     
  3. Der Präsident darf seine Stellvertreter selbst wählen und ernennt Minister ohne Parlamentsanhörung. Auch bestimmt der Präsident über die Universitätsrektoren mit.
     
  4. Gegen Stellvertreter und Minister sind nur Untersuchungen zugelassen, sie können nicht per Misstrauensvotum abgesetzt werden.
     
  5. Der Präsident kann (ähnlich wie in den USA) direkte Präsidialverordnungen (Dekrete) erlassen. Das Parlament muss den Dekreten nicht mehr zustimmen. Per Dekret kann der Präsident Ministerien abschaffen, errichten oder umorganisieren.
     
  6. Die Wahlen für Parlament und Präsident werden neu alle fünf Jahre am gleichen Tag erfolgen. Das erste Mal am 3. November 2019. Die Zahl der Parlamentssitze wird von 550 auf 600 erhöht. Parlamentarische Anfragen gibts es nur noch schriftlich an Vizepräsidenten und Minister. Diese müssen innert 15 Tagen antworten.
     
  7. Der Präsident kann das Parlament zu jeder Zeit auflösen, dann müssen gleichzeitig Neuwahlen für Parlament und Präsident stattfinden. Wenn das Parlament den Präsidenten absetzen will, hat dies auch Neuwahlen im Parlament zur Folge.
     
  8. Die Amtsperioden des Präsidenten bleiben auf zwei beschränkt. Die Zählung der Amtszeiten würde unter dem neuen System aber neu beginnen. Das heisst, Erdogan könnte theoretisch bis 2029 weiterregieren, wenn er gewählt wird.
     
  9. Der Präsident kann weiterhin Gesetzesvorhaben des Parlaments mit einem Veto blockieren. Das Veto kann vom Parlament mit einer Mehrheit der Gesamtzahl der Mitglieder überstimmt werden.
     
  10. Der Präsident kann neu im Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte vier der 13 Mitglieder bestimmen.
     
  11. Das passive Wahlrecht wird von 25 auf 18 Jahre herabgesetzt. (Das passive Wahlrecht ist das Recht, sich bei einer Wahl als Kandidat aufstellen zu lassen) Menschen mit Bezug zum Militär dürfen nicht mehr für die Wahl aufgestellt werden.
     
  12. Militärgerichte werden abgeschafft, ausser um Delikte von Soldaten zu Kriegszeiten zu untersuchen.

Unterschiede zu den USA

Im Gegensatz zum US-System fehlen sogenannte «Checks and Balances», also Organe, die als Gegengewicht zum Präsidenten fungieren. Ausserdem legt in den USA der Kongress das Staatsbudget fest, in der Türkei würde nach der Reform der Präsident darüber verfügen. In den USA haben zudem die Einzelstaaten noch mehr zu sagen. Der türkische Präsident hätte bei einem Ja zur Reform weitreichendere Freiheiten und mehr Macht im eigenen Land als der US-Präsident.

  1. Erdogan wird Staats- und Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten und der Ministerrat werden als eigenständige Organe abgeschafft.
     
  2. Der Präsident darf neu einer Partei angehören und dieser vorsitzen.
     
  3. Der Präsident darf seine Stellvertreter selbst wählen und ernennt Minister ohne Parlamentsanhörung. Auch bestimmt der Präsident über die Universitätsrektoren mit.
     
  4. Gegen Stellvertreter und Minister sind nur Untersuchungen zugelassen, sie können nicht per Misstrauensvotum abgesetzt werden.
     
  5. Der Präsident kann (ähnlich wie in den USA) direkte Präsidialverordnungen (Dekrete) erlassen. Das Parlament muss den Dekreten nicht mehr zustimmen. Per Dekret kann der Präsident Ministerien abschaffen, errichten oder umorganisieren.
     
  6. Die Wahlen für Parlament und Präsident werden neu alle fünf Jahre am gleichen Tag erfolgen. Das erste Mal am 3. November 2019. Die Zahl der Parlamentssitze wird von 550 auf 600 erhöht. Parlamentarische Anfragen gibts es nur noch schriftlich an Vizepräsidenten und Minister. Diese müssen innert 15 Tagen antworten.
     
  7. Der Präsident kann das Parlament zu jeder Zeit auflösen, dann müssen gleichzeitig Neuwahlen für Parlament und Präsident stattfinden. Wenn das Parlament den Präsidenten absetzen will, hat dies auch Neuwahlen im Parlament zur Folge.
     
  8. Die Amtsperioden des Präsidenten bleiben auf zwei beschränkt. Die Zählung der Amtszeiten würde unter dem neuen System aber neu beginnen. Das heisst, Erdogan könnte theoretisch bis 2029 weiterregieren, wenn er gewählt wird.
     
  9. Der Präsident kann weiterhin Gesetzesvorhaben des Parlaments mit einem Veto blockieren. Das Veto kann vom Parlament mit einer Mehrheit der Gesamtzahl der Mitglieder überstimmt werden.
     
  10. Der Präsident kann neu im Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte vier der 13 Mitglieder bestimmen.
     
  11. Das passive Wahlrecht wird von 25 auf 18 Jahre herabgesetzt. (Das passive Wahlrecht ist das Recht, sich bei einer Wahl als Kandidat aufstellen zu lassen) Menschen mit Bezug zum Militär dürfen nicht mehr für die Wahl aufgestellt werden.
     
  12. Militärgerichte werden abgeschafft, ausser um Delikte von Soldaten zu Kriegszeiten zu untersuchen.

Unterschiede zu den USA

Im Gegensatz zum US-System fehlen sogenannte «Checks and Balances», also Organe, die als Gegengewicht zum Präsidenten fungieren. Ausserdem legt in den USA der Kongress das Staatsbudget fest, in der Türkei würde nach der Reform der Präsident darüber verfügen. In den USA haben zudem die Einzelstaaten noch mehr zu sagen. Der türkische Präsident hätte bei einem Ja zur Reform weitreichendere Freiheiten und mehr Macht im eigenen Land als der US-Präsident.

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