Lehrer Enver Idtisi (61) raucht eine Zigarette in einem leeren Klassenzimmer. Seine Schule steckt in Schwierigkeiten. Das Bauerndorf Lluga, 20 Kilometer nördlich von Pristina gelegen, stirbt aus.
Seit Januar fehlen 36 Kinder. Ihre Eltern sind mit ihnen nach Westeuropa geflüchtet. Insgesamt 5200 Kinder sind Kosovos Schulen seit Dezember abhanden gekommen.
Lehrer Idtisi aus Lluga bangt um seine Stelle. Rektor Nysret Ismajli (33) wird gezwungen sein, die Klassen zusammenzulegen. «Es ist eine Katastrophe!», sagt er.
Überall im Dorf stehen leere Häuser. Ein stattliches Haus mit Überwachungskamera sticht heraus. Verwandte im Ausland haben es finanziert. Doch auch seine Bewohner sind weg.
«Von einem Haus allein wird man nicht satt», sagt der Nachbar. Seit die örtliche Sonnenblumenöl-Fabrik nach Bulgarien übersiedelte, sind die meisten im Dorf arbeitslos.
Auch in einer Schule des Dorfes Lipjan, in der Nähe des Flughafens von Pristina, sind die Schüler verschwunden. «Eine Zeit lang hatten wir jeden Tag einen Schüler weniger», sagt Rektor Shaip Fazliu (49).
Über Facebook hätten sich die ausgewanderten Familien dann aus dem Westen gemeldet. «Sie schickten Bilder von Wohnungen der Verwandten, bei denen sie unterkamen, und schrieben Dinge wie: ‹Ihr könnt es auch schaffen!›», sagt Fazliu.
Das habe die Situation noch angeheizt. «Die Kinder weinen oft, weil sie ihre Kameraden vermissen.» Mittlerweile sei die Situation aber wieder etwas ruhiger. Es hat sich herumgesprochen, dass es im Schengen-Raum für Kosovaren kein Asyl gibt.
Lehrer Ahmed Imeri (61) ist eine Respektsperson an der Schule. Ohne anzuklopfen, schreitet er ins Büro des Direktors. Mit grossen Gesten erzählt er vom Krieg.
400 Euro Lohn pro Monat
«Er war schlimm, aber wir haben alles überstanden. Auch die Serben, die uns umbringen wollten. Doch das hier ist noch schlimmer.» Die Armut sei allgegenwärtig. 400 Euro verdiene er pro Monat. «Mit meinem Lohn muss ich sieben Leute ernähren. Meine Hosen kaufe ich auf dem Secondhand-Markt», sagt er.
«Zum Glück habe ich noch eine Kuh und Hühner. Es ist zum Weinen, wenn man die Jungen weggehen sieht.»
Im Klassenzimmer lässt er die Schüler auf Englisch eine Begrüssung aufsagen. Der Abfalleimer in der Ecke quillt über, am Boden liegen leere PET-Flaschen. Dann beendet Ahmed Imeri den Unterricht abrupt, um mit seinen Kollegen auf dem Gang zu plaudern.
«Die Kosovaren sind frustriert, weil sich das Leben im Kosovo nicht gross verändert», sagt Rektor Fazliu. Gleichzeitig seien auch ihre Ansprüche gestiegen. «Immerhin ist die Stromversorgung trotz regelmässiger Ausfälle besser geworden.»
Bevor die Türken das Stromgeschäft übernommen hätten, erschien Kosovo nachts auf Google Earth als dunkler Fleck. Dort, wo die Zahlungsmoral der Kunden am schlechtesten war, gab es gerade einmal zwei Stunden Strom pro Tag.
Die Kohlekraftwerke Kosova A und Kosova B versorgen fast das ganze Land mit Strom. Sie gehören zu den umweltschädlichsten der Welt. Der Smog aus ihren Monstertürmen weht bis nach Pristina und verpestet dort regelmässig die Luft. Die Krebsfälle in den umliegenden Dörfern haben zugenommen.
Ein Neubau ist schon länger angedacht, doch passiert ist nichts. Das Dorf Hade beim Kraftwerk ist eine verlassene Braunkohle- Wüstenlandschaft. Wer konnte, zog weg.
«Bestimmt ist es überall besser als hier, doch wir haben kein Geld, um irgendwohin zu gehen», sagt Muhamet Graiqevci (28). Der Familienvater ist arbeitslos. Auf die Politik und die ausländischen Organisationen ist er nicht gut zu sprechen: Die Präsidentin, die die EU ihnen aufgezwungen habe, sei eine Marionette mit teuren Kleidern, sagt Graiqevci.
Kurz vor den Wahlen ziehe es die Politiker auf Stimmenfang in die Dörfer. «Sie versprechen Arbeit, Strassen, bessere Luft. Einer sagte, das hier werde die zweite Schweiz!» Sobald sie im Parlament sässen, hätten sie es wieder vergessen.
Sein Bruder Asdren (19) ist Automechaniker, auch er hat keine Arbeit. «Manchmal pumpe ich mir von meinem Vater 50 Cent, damit ich einen Kaffee in der nächsten Stadt trinken kann», sagt er.
«Ich würde so gerne einmal weggehen, den ganzen Tag bin ich zu Hause», sagt Muhamets Ehefrau Fatime Graiqevci (26). Sie freut sich, wenn sich einmal Fremde ins Dorf verirren. Weisser Staub vom Kohlekraftwerk bedeckt den Boden in ihrem Haus. «Ständig muss ich putzen.»
Das Haus von Mehereme Brahimi (25) liegt nur wenige Meter vom Kraftwerk entfernt. Auch sie muss wegen des Kohlestaubs ständig putzen. Und husten. Sie lebt hier mit ihren Kindern Ermonda (4) und Ermond (2). «Ich wäre gern Polizistin geworden. Vielleicht schaffe ich es noch. Ich lerne zu Hause fleissig für die Polizeischule.»
Auch der Braunkohleverkäufer Visar Hqradimaj (29) hat noch Hoffnung: «Ich möchte gerne Lehrer werden!»